Mittwoch, 5. August 2009

Kriton - eine Erzählung (3)

Ein Jahr später war Kriton wieder in Jerusalem, nachdem er geheiratet hatte und sein Vater ihm und seiner jungen Frau ein „Hochzeitsjahr“ ermöglicht hatte. Es war Sommer und heiß wie in Alexandria, aber die Luft auf den Bergen Judäas blies angenehm trocken. Wie üblich besuchte er am Sabbat die alexandrinische Synagoge, nachdem er erfolgreiche Geschäfte hatte abschließen können. Nach der Lesung in der Synagoge stand ein Mann auf und erklärte: „In der Vollmacht des Herrn verkündige ich euch heute: Jesus ist der Herr.“ Kriton runzelte die Stirn. Sprach dieser Mann von dem Jesus, dem er vor einem Jahr begegnet war? Und wenn ja, wie konnte er ihn als Herr, also als Gott bezeichnen? Kriton spitzte die Ohren: „Ihr habt eben das Wort der Tora gehört, dass Gott in keinem von Menschen gebauten Tempel wohnt. Jesus hat vor seinem Tod prophezeit: Reißt diesen Tempel nieder, und in drei Tagen werde ich ihn wieder aufbauen. Jesus wurde beim diesjährigen Passahfest gekreuzigt, und nach drei Tagen haben ihn seine Jünger und viele von uns wieder gesehen. Er ist von den Toten auferstanden! Damit hat sich sein Wort erfüllt. Er selbst ist der Tempel Gottes! Vergesst den Tempel hier in Jerusalem, der mit Händen gebaut ist. Vergebung eurer Sünden empfangt ihr nicht im Tempel, sondern wenn ihr in den Tempel eintretet, der Jesus ist. Gott wohnt in Jesus, das bezeugen wir. Durch seinen Tod ist er für unsere Sünden gestorben und durch seine Auferstehung hat ihn Gott der Vater zum Herrn, zum Messias, zum Christus eingesetzt. Kehrt um, und glaubt an ihn. Stimmt ein in das Bekenntnis: Jesus ist der Herr, Jesus ist der Christus, so werdet ihr gerettet.“ Das Murmeln in der Synagoge wurde immer lauter und nach diesem Satz schlug es in Empörung, aber auch Zustimmung um. Die Versammelten riefen durcheinander: „Schweig, Gotteslästerer, Tempelzerstörer.“ Andere riefen aber: „Jesus ist der Herr.“
So etwas hatte Kriton noch nicht erlebt. Was war hier los in Jerusalem? In Alexandria hielt man den Tempel zwar auch nicht für so wichtig wie die Tora, aber hier stand ein Mensch mit Namen Jesus, der für den Messias gehalten wurde, im Mittelpunkt der Schriftauslegung. Über so etwas hatte er noch nie nachgedacht. War nicht Mose der Mittler zwischen Gottes Willen und dem jüdischen Volk? Diese Leute aber meinten, Jesus sei der neue Mittler. Kriton verließ die Synagoge und mit wachsender Distanz machte er sich einen Reim darauf. Diese von Jesus verlassenen Juden waren fanatisiert, sie versuchten, ihren enttäuschten Glauben aufrechtzuerhalten. Aus einem echten Messias machten sie einen machtlosen, rein geistigen Messias. Eine kurze Begeisterung für einen unglücklich Verstorbenen, die wohl kaum länger anhalten wird, dachte er damals.
Sein Vater starb im folgenden Winter und darum war Kriton die nächsten Jahre in Alexandria festgebunden. Er besuchte gerne eine Synagoge, in der ein Weisheitslehrer namens Philo die Tora auslegte. Es sprach ihn an, wenn Philo den Tiefensinn der Tora aufdeckte. So zeigte dieser Gelehrte auf, dass Sara die göttliche Weisheit sei und Abraham ihr Schüler. Wenn er mit der Weisheit verkehre, zeuge er mit ihr das Lachen, die Freude der Erleuchtung, Isaak genannt. Philo richtete seine Frömmigkeit ganz auf Gott aus, den Unerkennbaren, von dem man nur wissen konnte, dass er ist, aber nicht, wer er in seinem Wesen ist. Kriton kam bei Philo zur Überzeugung, dass die Tora aller griechischen Weisheit überlegen sei, auch einem Platon oder Sokrates. Mose hatte all das, was diese großen Hellenen geschrieben hatten, schon viel früher verschlüsselt in der Tora aufgeschrieben. Kriton meditierte häufig in der Synagoge Philos, und das half ihm, den anstrengenden Arbeitsalltag zu bewältigen.
Dann aber schlug das Schicksal unbarmherzig zu. Im 2. Jahr des Caligula brach der Zorn der Ägypter und Hellenen über die Juden in Alexandria herein. Sie neideten ihnen ihren Wohlstand und ihre Festigkeit im Glauben. In einem Massaker töteten sie Tausende, Kriton überlebte, jedoch nicht seine Mutter, seine Frau und seine Kinder. Der Pogrom dauerte mehrere Tage an, und die römischen Soldaten griffen nicht zum Schutz der Juden ein, obwohl dies ihre Pflicht war. Es war grauenhaft. Erst nach Tagen legte sich der Zorn der Heiden.
Wie konnte Gott das zulassen? Gab es überhaupt seine Vorsehung? Warum hatte er überlebt? So fragte Kriton. Seine innere Ruhe der Jahre vorher war dahin. Er wurde wieder ein Reisender, und besuchte die großen Städte des Römischen Reiches. An Wohlstand und Reichtum lag ihm nicht mehr. Er wurde ein rastloser Händler, um den Schmerz und die Trauer zu verdrängen. Gott blieb ihm fern. Trost spendete ihm allein das Buch des Predigers, das Sätze enthielt wie „Völlig sinnlos ist alles, völlig sinnlos. Was auch geschieht, es hat keinen Sinn. Der Mensch müht und plagt sich sein Leben und was hat er davon?“ Die Sabbatgottesdienste ließ er an sich vorüberziehen, aber Gott sprach nicht mehr zu ihm und Kriton verlangte nicht mehr nach ihm.

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