Sonntag, 15. November 2009

Gebet und Revolution

Dem 9. November 1989 wurde dieses Jahr zum "20. Jubiläum" besonders gedacht. Nicht vergessen werden sollte, dass ein Schlüsseldatum der friedlichen Revolution der 9. Oktober 1989 war.

Diesmal wollte der Demonstrationszug den ganzen Innenstadtring herummarschieren, auch am Gebäude der MfS (Stasi)-Bezirksverwaltung vorbei. Vor der Demonstration fanden in allen vier Leipziger Kirchen Friedengebete statt, in denen zu unbedingter Gewaltlosigkeit aufgerufen wurde. Es war "ein Aufbruch im Raum des Gebets." (R. Mau)

An diesem Tag wollte die Staatsführung der DDR den immer größer werdenden Montagsdemonstrationen in Leipzig Paroli bieten. Wasserwerfer [nicht Panzer, wie ich ursprünglich geschrieben habe: siehe Kommentar!] standen in den Seitenstraßen. Wie man sich verhalten sollte, wurde allerdings nicht entschieden, man wartete ab, war unsicher.



Zu Beginn der Demonstration erfuhr man über Lautsprechersäule am Leipziger Ring, dass engagierte Leipziger Bürger (u.a. Kurt Masur) mit der SED-Führung von Leipzig einen Aufruf zum freien Meinungsaustausch verfasst hatten und zur Besonnenheit aufriefen. Die Demonstranten hatte Kerzen in ihren Händen und riefen immer stärker und mutiger "Wir sind das Volk". Die Soldaten und die Polizei wagten/brauchten nicht einzugreifen.
Egon Krenz war für die Leipziger Funktionäre nicht zu erreichen, und so entschied man in Leipzig selbst, nicht einzugreifen, sofern keine Angriffe von Seiten der Demonstranten erfolgten, eine knappe Stunde später rief Krenz aus Berlin an und bejahte nachträglich die Entscheidung vor Ort.

Horst Sindermann, Präsident der Volkskammer, meinte später: "Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht."

Angeregt durch: Rudolf Mau: Kirche als Raum der Befreiung zum eigenen Wort, in: Theologische Literaturzeitung 134/10 (2009), Sp.1025 und Sp. 1038f.
Bildquelle: http://www.welt.de/multimedia/archive/1223634339000/00679/leipzig_13_11__DW_R_679662g.jpg

Ergänzung aufgrund einer Richtigstellung (siehe Kommentar):


In der SED-Führung und NVA wurde in den Tagen zuvor zwar eine militärische Lösung diskutiert, aber eben nicht entschieden; die Hemmung, Todesopfer in der eigenen Bevölkerung zu riskieren, war groß; man beließ es bei polizeilich harten Durchgriffen am 6. und 7. Oktober gegenüber Demonstranten und plante so auch für den 9. Oktober in Leipzig. Auf Bezirksebene (Leipzig) und Stadt-Ebene (Plauen, Dresden: Bergmann) wollten die SED-Verantwortlichen ebenso keine militärische Gewalt ausüben und versuchten mit den demonstrierenden Bürgern ins Gespräch zu kommen.
Die erhöhte Einsatzbereitschaft von NVA und Stasi-Einsatzkommandos sprach sich allerdings herum und ließ auf Seiten der Bevölkerung (und auch bei vielen Soldaten/Polizisten) das Schlimmste befürchten. Es war klar, dass nur absolute Gewaltlosigkeit eingreifhemmend sein konnte. Die deshalb praktizierte Gewaltlosigkeit der Bürger hat es auch den politisch Verantwortlichen und den mobilisierten Soldaten/Polizisten ermöglicht, auf Gewalt zu verzichten.
So sieht im Moment meine geschichtliche Erkenntnis rund um den 9. Oktober 1989 aus, ich lasse mich aber gerne weiter eines Besseren belehren!

Ich habe vertiefend und für die Korrektur zu Rate gezogen: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München: Beck 2009, S. 386-404.

5 Kommentare:

  1. Es standen keine Panzer bereit. Dieser Mythos hält sich hartnäckig, ist aber historisch falsch. Dass Truppen zusammengezogen wurden nebst Armeefahrzeugen, ist richtig. Panzer waren jedoch nicht vor Ort.

    MfG,

    die Klugschei*erin

    P.S. Es ist ein Wunder und dem Engagement friedliebender Bürger zu verdanken, dass es friedlich blieb.

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  2. Danke für das genaue Lesen, Kerstin! Du hast recht; ich habe aus der Erinnerung geschrieben und nicht noch mal genau recherchiert (es waren panzerähnliche polizeiliche Wasserwerfer). Ich korrigiere es.
    In der SED-Führung und NVA wurde in den Tagen zuvor zwar eine gewaltsame Lösung diskutiert, aber eben nicht entschieden; die Hemmung, Todesopfer in der eigenen Bevölkerung zu riskieren, war groß; man beließ es bei körperlich harten Durchgriffen am 6. und 7. Oktober gegenüber Demonstranten und plante so auch für den 9. Oktober in Leipzig. Auf Bezirksebene (Leipzig) und Stadt-Ebene (Plauen, Dresden: Bergmann) wollten die SED-Verantwortlichen ebenso keine Gewalt ausüben und versuchten mit den demonstrierenden Bürgern ins Gespräch zu kommen.
    Die erhöhte Einsatzbereitschaft von NVA und Stasi-Einsatzkommandos sprach sich allerdings herum und ließ auf Seiten der Bevölkerung (und auch bein vielen Soldaten/Polizisten) das Schlimmste befürchten. Es war klar, dass nur absolute Gewaltlosigkeit eingreifhemmend sein konnte. Die deshalb praktizierte Gewaltlosigkeit der Bürger hat es auch den politisch Verantwortlichen und den mobilisierten Soldaten/Polizisten ermöglicht, auf Gewalt zu verzichten.
    So sieht im Moment meine geschichtliche Erkenntnis zum 9. Okt. aus, ich lasse mich aber gerne weiter eines Besseren belehren!

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  3. Das entspricht nun auch genau dem, was ich recherchiert habe.
    Schon irre, oder? Über Nacht ein friedliches Ende Gelände.

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  4. Christian Semler in der taz vom 21.11.2009
    "Die Massenaktionen des Jahres 1989 zeigten ein vollständig anderes Bild: eine äußerst vielfältig gegliederte, ausgelassen stimmungsvolle Menge, entschlossen, aber gleichzeitig klug und sensibel reagierend, eine scharfe Abrechnung, aber ohne dumpfen Hass. Die Friedfertigkeit der demonstrierenden Menge war nicht nur die Folge eines taktischen Kalküls, das der Staatsmacht keinen Vorwand zur Gewaltanwendung liefern wollte, sondern drückte ein grundlegend anderes Verhältnis zum politischen Gegner aus. Es sollte Schluss sein mit der "Theorie und Praxis der Ausgrenzung" (so eine Zeitschrift des "zweiten Umlaufs" in der DDR), wie sie dem SED-Regime von der demokratischen Opposition vorgeworfen wurde.

    "Die Neuheit", so schrieb der englische Wissenschaftler Jeremy Adler angesichts der Prager Massendemonstrationen 1989, "bestand nicht allein darin, dass die Umwälzung unblutig verlief, sondern in der guten Laune der Menschenmenge, ihrer Stimmung, die Friedfertigkeit mit Humor verband, das traditionelle Vehikel der Unterdrückung, den sie in ein Mittel zur Überwindung ebendieser Unterdrückung umformte."

    http://www.taz.de/1/archiv/print-archiv/printressorts/digi-artikel/?ressort=me&dig=2009/11/21/a0187&cHash=091f61ea80

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  5. @Ano: interessant!!! So habe ich das noch nie betrachtet! (Blöd, dass ich mein taz-Abo aufgeben musste...)

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