Montag, 15. Februar 2010

Mit dem Urteilen abwarten

An meiner Schule fand heute eine Fortbildung zu TZI (Themenzentrierte Interaktion) statt. Von einem erfahrenen TZI-Dozenten konnte ich mir ein Büchlein ausleihen, in dem ich folgende nachdenkenswerte Geschichte lese:

In einem chinesischen Dorfe lebte ein alter Mann, der ein wunderschönes weißes Pferd besaß. Darum beneideten ihn selbst die Fürsten. Der Greis lebte in ärmlichen Verhältnissen, doch sein Pferd verkaufte er nicht, weil er es als Freund betrachtete. Als das Pferd eines Morgens verschwunden war, erzählte man sich im ganzen Dorf: »Schon immer haben wir gewußt, daß dieses Pferd eines Tages gestohlen würde. Welch ein Unglück für diesen alten Mann!« So weit dürft ihr nicht gehen«, erwiderte der alte Mann. »Richtig ist, daß das Pferd nicht mehr in seinem Stall ist, alles andere ist Urteil. Niemand weiß, ob dies ein Unglück ist oder ein Segen.«
Nach zwei Wochen kehrte der Schimmel, der nur in die Wildnis ausgebrochen war, mit einer Schar wilder Pferde zurück. »Du hast recht gehabt, alter Mann«, sprach das ganze Dorf, »es war ein Segen, kein Unglück!« Darauf erwiderte der Greis: »Ihr geht wieder zu weit. Tatsache ist nur, daß das Pferd zurückgekehrt ist.«
Der alte Mann hatte einen Sohn, der nun mit diesen Pferden zu arbeiten begann. Doch bereits nach einigen Tagen stürzte er von einem Pferd und brach sich beide Beine. Im Dorf sprach man nun: »Alter Mann, du hattest recht, es war ein Unglück, denn dein einziger Sohn, der dich im Alter versorgen könnte, kann nun seine Beine nicht mehr gebrauchen.« Darauf antwortete der Mann: »Ihr geht wieder zu weit. Sagt doch einfach, daß sich mein Sohn die Beine gebrochen hat. Wer kann denn wissen, ob dies ein Unheil ist oder ein Segen?«
Bald darauf brach ein Krieg im Lande aus. Alle jungen Männer wurden in die Armee eingezogen. Einzig der Sohn des alten Mannes blieb daheim, weil er ein Krüppel war. Die Bewohner des Dorfes meinten: „Der Unfall war ein Segen, du hattest Recht.“ Darauf entgegnete der alte Mann: Warum seid ihr vom Urteilen so besessen? Richtig ist nur, daß eure Söhne ins Heer eingezogen wurden, mein Sohn jedoch nicht. Ob dies ein Segen oder Unglück ist, wer weiß?“

Cornelia Löhmer, Rüdiger Standhardt: TZI - Die Kunst, sich selbst und eine Gruppe zu leiten, 2. Auflage 2008, S. 46-48.

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