Samstag, 30. Januar 2010

Wenn Kindern aus der Bibel erzählt wird...

Ehe ich zur Schule ging, hatte mein Vater mir schon viele biblische Geschichten, auch die von der Sintflut, erzählt. Als nun ein sehr regnerischer Sommer war, überfiel ich ihn mit der Bemerkung: „Wohl hat es jetzt auch bei uns schon an die vierzig Tage und vierzig Nächte geregnet, und das Wasser kommt nicht einmal an die Häuser, geschweige denn bis hinauf über die Berge." „Ja, damals", antwortete er, „zu Beginn der Welt, hat es eben nicht in Tropfen geregnet, wie jetzt, sondern wie wenn man Wasser aus Kübeln ausschüttet." Diese Erklärung leuchtete mir ein. Als dann die Lehrerin in der Schule auch die Geschichte von der Sintflut erzählte, wartete ich darauf, daß sie ebenfalls den Unterschied zwischen dem damaligen und dem jetzigen Regnen erwähnen würde. Sie unterließ es aber. Da konnte ich nicht mehr an mich halten. „Fräulein Lehrerin", rief ich von meinem Platze aus, „du musst die Geschichte auch richtig erzählen." Ohne mich zur Ruhe verweisen zu lassen, fuhr ich fort: „Du musst sagen, daß es damals nicht in Tropfen regnete, sondern wie wenn man Wasser aus Kübeln ausschüttet."

Als ich acht Jahre alt war, gab mir mein Vater, auf meine Bitten, ein neues Testament, in dem ich eifrig las. Zu den Geschichten, die mich am meisten beschäftigten, gehörte die von den Weisen aus dem Morgenland. Was haben die Eltern Jesu mit dem Gold und den Kostbarkeiten gemacht, die sie von diesen Männern bekamen? fragte ich mich. Wie konnten sie nachher wieder arm sein? Ganz unbegreiflich war mir, daß die Weisen aus dem Morgenland sich später um das Jesuskind gar nicht mehr bekümmerten. Auch daß von den Hirten zu Bethlehem nicht erzählt wird, sie seien nachher Jünger Jesu geworden, gab mir schweren Anstoß.

Den Religionsunterricht auf der Realschule in Münster erteilte Pfarrer Schäffer, eine bedeutende religiöse Persönlichkeit und ein in seiner Art hervorragender Redner. Er konnte die biblischen Geschichten hinreißend erzählen. Noch erinnere ich mich, wie er auf dem Pulte weinte und wir in den Bänken schluchzten, als Joseph sich seinen Brüdern zu erkennen gab.

Albert Schweitzer: Aus meiner Kindheit und Jugendzeit, in: ders., Selbstzeugnisse, München 1959, S.20 und S. 26.

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