„Mit dem Bedürfnis, die anderen zu verstehen, die anderen zu lieben – übrigens der einzige Weg, sich selbst zu verstehen und zu lieben –, damit beginnt Bildung.“(Cesare Pavese, italienischer Schriftsteller)
Bildung ist nach Pavese ohne das Bedürfnis, ohne die Sehnsucht, die anderen zu verstehen, die anderen zu lieben, nicht vorstellbar. In euch, liebe Abiturienten, hat diese Sehnsucht gesteckt und sie hat auch euer schulisches Lernen inspiriert und mitgetragen. Ihr habt nicht nur gebüffelt. Das Bedürfnis zu verstehen, hat euch immer wieder gepackt und in manchen Schulstunden, Arbeiten und Prüfungen zu ungeahnten Leistungen geführt. In mir als Lehrer steckt ebenfalls diese Sehnsucht, immer noch, nach vielen Jahren des Lehrens und Lernens. Es begeistert mich, das zu verstehen, das anders ist als ich, die zu verstehen, die anders denken, anders fühlen, anders ticken. Vieles anzuerkennen, was mir zunächst fremd erscheint. Und in diesem Prozess lerne ich mich selber besser kennen.
Ich bin der Überzeugung, dass Religion, dass Glaube zu dieser Art der Persönlichkeitsbildung beiträgt. Im christlichen Glauben lerne ich Gott kennen als den, der mich zu verstehen sucht, der mich, sein Geschöpf so sehr liebt, dass er mir gleich geworden ist. Er kennt mich ganz und gar. Meine Stärken, meine Schwächen, meinen Mut und meine Angst, meine Liebe und meinen Zorn, meine Sonnenseiten und meine Schattenseiten. Gott anerkennt mich mit dem, was ich bin. Diese völlige Annahme befreit mich dazu, mich ohne Täuschung, ohne Verzerrung wahrzunehmen. Mich mit meinen Gaben, aber auch mit meinen Abgründen zu sehen. Mich zu lieben, ohne einer narzisstischen Selbsttäuschung zu unterliegen. Diese Freiheit zur ungetrübten Selbsterkenntnis macht mich offen, andere zu verstehen, anzunehmen und zu lieben. Glaube kann somit freimachen zur Bildung, zur Sehnsucht, die anderen zu verstehen, die anderen zu lieben.
Ein solcher Glaube hat von daher auch keine Angst vor „höherer“ Bildung, keine Angst vor Wissenschaft, Kritik und Analyse. Im wissenschaftlichen Sinn gebildet sein und sich gleichzeitig Gott anzuvertrauen, das sind zwar zwei unterschiedliche Zugänge zum Leben, die sich aber nicht ausschließen, sondern vertragen können. Glaube kann und muss Reflexion und Kritik aushalten, sonst wäre er nicht wirklich frei. Glaube versucht auch den Nichtglauben zu verstehen. Nichtglaubende wiederum können anerkennen, dass es diese Form von Glauben gibt, der die tiefen Sinnfragen unseres Lebens mit dem Wort „Gott“ beantwortet.
Ich möchte diejenigen unter euch, die sich Gott anvertraut haben, die von seiner Liebe ergriffen sind, ermutigen, Folgendes mitzunehmen: dass der Glaube euch nicht hemmt, die anderen zu verstehen, die anderen zu lieben, sondern dass er in euch das Bedürfnis dafür noch verstärkt. Dass er euch liebesfähig macht, damit ihr die anderen und euch selbst tiefer lieben könnt. Denn: Gott ist die Liebe.
Ich möchte ebenso diejenigen unter euch, die sich gegenüber Religion eher distanziert verhalten möchten, ermutigen, Folgendes mitzunehmen: Den Respekt vor Menschen, die sich Gott anvertrauen; anerkennen, dass es Formen des Glaubens gibt, die nicht bildungsfeindlich sind, sondern die dazu beitragen, dass die Frage nach dem, was der tragende Grund unserer ganzen Wirklichkeit ist, offen bleibt. Schließlich: Gott als nicht auszuschließende Möglichkeit wachzuhalten, Gott als Weg zur Selbsterkenntnis und zur Welterkenntnis.
Samstag, 26. Juni 2010
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