Jesus von Nazareth greift diese
Verheißung auf und sieht sie in seinem Wirken sichtbar werden. Er hat einen
genauen Blick für die bedrückenden Zustände in Palästina. Er sieht die große Armut, in der die
Mehrheit der Bevölkerung lebt. Er sieht
auf den Gassen und außerhalb der Dörfer die Kranken, die Besessenen, die
Weinenden, die Trauernden, die Hungrigen. Er sieht ein Festhalten an falschen Sicherheiten: Er sieht unermesslichen Reichtum, satte und
zufriedene Menschen, die das Leid ausblenden und mit sich rundum zufrieden sind
und allein darum besorgt, ihren Besitz nicht zu verlieren. Er sieht die Gewalt der Mächtigen, die
unter allen Umständen an ihrer Macht festhalten wollen und danach streben,
Erster zu sein. Er sieht Fromme, die
den Leidenden ihr Leid als Folge von Sünde zuschreiben und sonst darauf bedacht
sind, minutiös Speise- und Reinigungsverordnungen einzuhalten, die im Laufe der
Zeit den biblischen Regeln hinzugewachsen waren. Er sieht einen Tempel, der zu einem Handelsunternehmen verkommen ist.
Jesus sieht einen tiefen Mangel an
Barmherzigkeit und Solidarität. Er sieht eine
Gesellschaft, in der Besitzende, Mächtige und Fromme nicht solidarische und
damit befreiende Gemeinschaft schaffen, sondern tiefere Gräben zwischen die Menschen
treiben.
In den Seligpreisungen stellt sich Jesus radikal auf die
Seite der Armen, Hungernden und Leidenden. Er verspricht ihnen eine baldige Änderung
ihrer Situation im Reich Gottes. (griech. basileia
theou). Das Reich Gottes ist die Welt und Gesellschaft universaler
Solidarität. In voller Kraft ist das Reich zwar noch eine zukünftige Größe (Mk 13,26–27), aber es bricht nach Jesus schon gegenwärtig an, vor allem auch in
seinem eigenen Wirken. Jesus ist von der Grundgewissheit getragen, dass die
heilvolle Gottesherrschaft nicht erst nach dem Weltgericht beginnt, sondern
schon in die Gegenwart hineinreicht, gewissermaßen aus der Zukunft in die Gegenwart hineinspringt. Jesus verkündet:
die Königsherrschaft Gottes ist im Anbruch. Den Gegenwartsaspekt des Reiches Gottes bindet Jesus an die heilenden
und befreienden Erfahrungen, die Menschen in der Begegnung mit ihm machen, vor
allem Kranke und Besessene. Jesus wendet sich als
Befreier (Exorzist) immer wieder diesen fremdbestimmten, dem eigenen Ich
verlustig gegangenen Menschen zu, um sie aus Gefangenschaft herauszuholen.
Die Spiritualität Jesu ist radikal auf Gottes Reich
ausgerichtet und bezieht von dort her eine befreiende „Sorglosigkeit“. Das zukünftige
Reich Gottes bestimmt für Jesus schon die Gegenwart: Und daher tritt an die
Stelle irdischer Sorge um die eigene Zukunft das absolute Vertrauen in die
Sorge des himmlischen Vaters. „Sorgt
euch nicht um das Leben, was ihr esst, noch um den Leib, was ihr anzieht! Denn
das Leben ist mehr als die Nahrung, und der Leib mehr als die Kleidung. Blickt
auf die Raben! Sie säen nicht, sie ernten nicht, noch haben sie eine Scheune.
Aber Gott nährt sie doch. Wie viel mehr seid ihr wert als die Vögel! Also sorgt
euch nicht: Was sollen wir essen, was
trinken, was anziehen? Nach dem allen trachten nämlich die Völker. Euer
Vater weiß, dass ihr dessen bedürft. Sucht ihr nur seine Herrschaft, und dies
wird euch hinzugegeben werden.“ (Auszüge aus Mt 6,25-34)
Jesus führte die Männer und Frauen vor die Frage: Wer bin
ich angesichts der Gottesherrschaft? Einige rief er in besonderer Weise in
seine Nähe und damit in die Nachfolge und
Wanderschaft: „Folge mir nach!“ Jesus reißt sie aus traditionellen sozialen
Verpflichtungen heraus: „Folge mir nach und lass die Toten ihre Toten
begraben!“ (Mt 8,22 par). An die Stelle bürgerlicher, dörflicher Traditionen
tritt das Risiko, in der engen Gemeinschaft mit Jesus seinen Vater als
barmherzigen Gott kennenzulernen, dessen Reich unmittelbar bevorsteht. Das
bedeutet Konzentration auf die Gegenwart und das Zukünftige. In der Nähe Jesu,
in der Nachfolge, lernen sie Barmherzigkeit und die Fähigkeit, die
Ausgeschlossenen in ihre Gemeinschaft mit einzuschließen. Jesus lehrt sie, die
in ihrer Gesellschaft Unscheinbaren zu sehen, die vielen chronisch Kranken, Tagelöhner,
Frauen, die sich mit Prostitution über Wasser halten, Kinder mit ihren Müttern.
Sie lernen glauben, d.h. an der Seite Jesu verzichten sie auf die üblichen
Sicherheiten, um sich einer ungesicherten Freiheit im Vertrauen zum gütigen
Vatergott zu stellen. Sie lassen sich auf das Abenteuer ein, die sich nahende
„Gottesherrschaft“ zur alles bestimmenden Mitte ihrer Existenz werden zu
lassen. Gerade auch Frauen konnte Jesus eine befreiende Anerkennung vermitteln,
die sonst unüblich war. Man denke nur an Maria und Martha, Maria von Magdalena
oder an die samaritanische Frau am Jakobsbrunnen.
Eine Quäkerweisheit bringt den spirituellen Lebensstil Jesu
ziemlich gut auf den Punkt: „Grenzenlos glücklich, absolut furchtlos und immer
in Schwierigkeiten.“ Jesus thematisierte in einigen Gleichnissen die Gefährlichkeit
der von ihm gelebten Spiritualität, die ja in einem völlig ungesicherten
Vertrauen auf Gottes Güte und Vorsorge gründete und dabei die bestehenden
Machtstrukturen in Frage stellte. Er rechnete auch mit Verfolgung bin hin zum
Martyrium, das er dann schließlich mit seinen Zeichenhandlungen in Jerusalem
bewusst riskierte. Sein messianisches Wirken zielte nicht auf eine
realpolitische Machtergreifung in Jerusalem, sondern darauf, dass Gott, sein
Vater, rettend zum Heil der Welt eingreift. In Gewaltlosigkeit hat er dies bis
zum demütigenden und entwürdigenden Tod am Kreuz – von den Römern als „Herren
der Welt“ veranlasst – durchgehalten.
Gott hat seinen Sohn nicht im Tod gelassen, sondern
auferweckt und ihn zum wahren Herrn
der Welt eingesetzt: das bezeugen die ersten Apostel, die ihn als
Auferstandenen sahen. Ihr Evangelium lautet: In Jesu Geschick hat Gott
tatsächlich rettend und befreiend eingegriffen. Gott war in Christus, er hat
die Welt durch seinen Sohn mit sich selbst versöhnt, die Sünden vergeben und
das Tor zum neuen, ewigen Leben geöffnet. Wer an Jesus und mit ihm verbunden an
den barmherzigen Vater glaubt, gewinnt Anteil an Gottes neuer Schöpfung. Diese
Wahrheit macht spirituell frei und so erklärt Jesus im Johannesevangelium den
Juden, die ihm geglaubt hatten: Wenn ihr in meinem Wort bleibt, so seid ihr
wahrhaft meine Jünger; und ihr werdet die Wahrheit erkennen, und die Wahrheit
wird euch frei machen. Sie antworteten ihm: Wir sind Abrahams Nachkommenschaft
und sind nie jemandes Sklaven gewesen. Wie sagst du: Ihr sollt frei werden?
Jesus antwortete ihnen: Wahrlich, wahrlich, ich sage euch: Jeder, der die Sünde
tut, ist der Sünde Sklave … Wenn nun der Sohn euch frei machen wird, so werdet
ihr wirklich frei sein (Joh 8,31-36; vgl. dazu auch Röm 6,14 und Röm 8,2). Seiner Gemeinde spricht er zu: „Ich
sage hinfort nicht, dass ihr Knechte seid; denn ein Knecht weiß nicht, was sein
Herr tut. Euch aber habe ich gesagt, dass ihr Freunde seid; denn alles, was ich
von meinem Vater gehört habe, habe ich euch kundgetan.“ Der Vater liebt den Sohn. In diese Liebe
wird die Gemeinde durch die Freundschaft Jesu hineingenommen. Sie kann somit
die Wahrheit bezeugen: Gott ist die
Liebe. Größte Gottesnähe und höchste Anerkennungserfahrung liegen hier ineinander.
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