"Es gibt nur eine Macht, die uns von uns selbst befreit, und uns alle Angst wie alle Selbstverzweiflung nimmt. Sie heißt die Liebe.
Wir kennen schon in unserem menschlichen Gemeinschaftsleben, wenn es je von dem Strahl der göttlichen Liebe getroffen war, etwas vom Leben und Walten der Liebe. Und mancher weiß beschämt und dankbar, daß er nicht das ist, was er aus sich selbst gemacht hat, sondern das, was die ihm begegnende, ihm geschenkte Liebe aus ihm gemacht hat. Diese geheimnisvolle Kraft echter Liebe beruht darin, daß sie den begegnenden Menschen sieht und versteht und behandelt nicht als den, der er hier und jetzt ist, sondern als den, der er sein kann, sein soll, sein möchte, als den Zukünftigen. Das macht einen Menschen froh und gibt ihm Vertrauen, wenn er spürt, daß der andere ihn als den Zukünftigen nimmt; daß der andere hindurchschauen kann durch alles Äußerliche, alles Alltägliche, Kleinliche, alles Unvollkommen-Halbe, das jedem anhaftet: daß der andere auf ihn vertraut. Und einem Menschen Vertrauen schenken, das bedeutet ja: an seine Zukunft glauben. Solches Vertrauen macht den, der es erfährt, glücklich und frei.
So schenkt Liebe Zukunft, so schenkt Liebe zugleich Glauben an die Zukunft. Aber alle unsere Liebe ist doch nur ein schwacher Abglanz der Liebe Gottes, die da »beweget Sonn und Sterne«. Wie schwach und gebrochen ist unsere Kraft, Liebe zu schenken und Liebe zu wecken! Das aber ist die christliche Botschaft, daß Gottes Liebe erschienen ist in Jesus Christus. Hier tritt sie aus der Verborgenheit und wird in Wort und Tat verkündet allen, die in Angst und Qual sich nach Freiheit sehnen. Gottes Liebe, die uns nimmt - nicht als die, die wir sind, zu denen wir uns gemacht haben, sondern als die, die wir nicht sind, die wir sein sollen, sein wollen, sein werden. Und dadurch macht die göttliche Liebe all das, was wir sind zum Schein und schenkt uns dafür, was wir nicht sind, unser echtes, wirkliches Sein. Gottes Liebe ist nicht ein Ziel, um das wir ringen - wer könnte sie sich erringen! -, sie ist die Macht, die uns immer schon umfängt, für die uns nur die Augen aufgehen sollen; und wir sollen die Augen richten auf den, in dem sie erschienen und wirklich geworden ist in der Welt, auf Jesus Christus. Sich von dieser Liebe getragen wissen, heißt frei sein von der Vergangenheit, frei sein von sich selbst, frei für die Zukunft, die Gott schenken will, für die Herrlichkeit, die an uns soll offenbart werden."
Ausschnitt aus einer Predigt, die Rudolf Bultmann am 2. Juli 1938 zu Römer 8,18-27 gehalten hat (Marburger Predigten, Tübingen 1956, S. 68-69)
Dienstag, 20. Juli 2010
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