Im 12. und 13. Jahrhundert
entwickelte sich in Europa eine faszinierende kulturelle Dynamik. Städte
entstanden, die ersten Hochschulen wurden gegründet, der interkulturelle
Austausch und damit auch der Handel intensivierte sich, neue Erfindungen, zumal
in der Landwirtschaft, setzten sich durch. Gab es bis etwa 1150 fast nur Bauern
(ca. 95 % der Bevölkerung), die auf dem Lande lebten, grundbesitzende Adelige,
von denen die Bauern abhängig waren und die Geistlichen, die überwiegend in
Klöstern lebten, so wachsen jetzt immer mehr Städte heran, in denen ein neuer
Menschentypus entsteht, der „Stadtbürger“. Von der Verweltlichung der Kirche
abgestoßen, suchten manche Städter neue Glaubensformen. Franziskus z.B. war der
Sohn eines reichen Bürgers, eines Tuchhändlers. Mit seinem Lebensstil absoluter
Armut, Jesus als Vorbild, war er ein Provokateur, der aber im Schoß der Kirche
bleiben wollte. Woanders entstanden selbstorganisierte Brüdergemeinschaften und
„Frauenhäuser“ (Beginen). Petrus Waldes war ein reicher Kaufmann aus Lyon, der
eine Generation vor Franziskus ab 1176 die apostolische Armut in der Nachfolge
Christi predigte. Die Bibel, in die Volkssprache übersetzt, war ihm und seinen
„Brüdern“ die einzige Richtschnur des Handelns. Zunächst geduldet, wurden die
Waldenser 1184 exkommuniziert. Sie verstanden sich aufgrund ihrer Armut als
wahre Nachfolger der Urchristen und sprachen dem Hochklerus (Papst,
Erzbischöfe, Bischöfe) eine besondere Autorität ab. Die trotz Verfolgung
missionsfreudigen Waldenser entwickelten sich in Europa zur ersten „freikirchlichen“
Gruppierung, die ein gemeindliches Christentum in genossenschaftlicher, aber
nicht klösterlicher Form lebte – unabhängig von staatlicher oder päpstlicher Aufsicht.
Ein Waldenser unterstützte im 15. Jahrhundert die
„Böhmisch-mährische Brüderunität“ bei ihrer Gemeindeorganisation. Diese „Brüdergemeinschaft“
legte Wert darauf, das christliche Leben ganz an der Bibel auszurichten und von
jeglicher weltlichen Gewalt getrennt zu sein. Der Laienpriester wurde von der
Gemeinde selbst gewählt, Entscheidungen immer von einem Rat oder einer Synode
gefällt. Im 16. Jahrhundert schlossen sich beide Bewegungen der Reformation
an. Die Brüdergemeinschaft blieb gegen den Trend der Zeit freie Gemeindekirche,
bis sie bei der gewaltsamen Rekatholisierung Böhmens und Mährens während des
Dreißigjährigen Krieges fast beseitigt wurde. Im polnischen Exil konnte der
außergewöhnliche Pädagoge Comenius wirken, der sich für einen europäischen
Frieden einsetzte. Die Brüdergemeinde wurde durch Graf Zinzendorf (1700–1760) erneuert.
Die „Herrenhuter“ waren ein quicklebendige, von „Jesusliebe“ geprägte Gemeinde,
in der christliches Gemeinschaftsleben freiwillig, also ohne Zwang, gelebt
wurde und Frauen als gleichwertige Mitglieder im Gemeindeleben anerkannt waren.
Auch diese Freikirche gab sich eine kollegiale Gemeindeordnung (Rat, Synode),
die der Geschwisterliebe entsprechen sollte
Zu den frühen Freikirchen gehörten auch die „Täufer“ (später
„Baptisten“), die Luthers Ruf zurück zur Heiligen Schrift besonders ernst
nahmen und daher die Kindertaufe – anders als Luther selbst – ablehnten. Sie
konnten sich Gemeinde nur als freiwilligen Zusammenschluss all derjenigen
vorstellen, die sich bewusst dem Evangelium zugewendet haben: „Christus selber sagt, dass man vorher
glauben solle, ehe man die Taufe empfange, oder man handelt gegen seine Worte,
Lehre und Einsetzung; und das ist eine greuliche Abgötterei, nicht gehorsam
gegenüber den Worten des Herrn zu sein.“[1]
Die Orientierung allein an der Schrift ist deutlich herauszuhören.
Die „Reformierten“ (Zwingli, Calvin) entwickelten eine presbyterial-synodale Kirchenordnung,
die sich deutlich vom lutherischen „landesherrlichen Kirchenregiment“
unterschied. Calvin legte Wert darauf, dass die Kirche sich selbst organisiert.
Sie soll ihre Ältesten (Presbyter) selbst wählen und alle wichtigen Fragen
nicht durch einen Einzelnen, sondern durch Gremien (Synoden) entscheiden
lassen. So wurde der Mitbestimmungsgedanke der modernen Demokratien nicht
unerheblich in den calvinistischen Gemeinden vorbereitet.
Besonders in England und in den englischen Kolonien in Nordamerika
wirkte die calvinistische Kirchenorganisation weiter. Viele in Europa verfolgte
Christen, Protestanten und Katholiken fanden in Amerika eine neue Heimat. Sie
hielten an ihren Konfessionen fest, aber nach recht kurzer Zeit setzte sich bei
fast allen Siedlern die Idee der Toleranz durch: Roger Williams schrieb 1647: „Als
Konstantin die Grenzen seiner eigenen Gebote und der Gebote Gottes durchbrach
und das Schwert der zivilen Macht zog, um die Gewissen anderer zum Vorteil der
Christen zu unterdrücken, begann das große Mysterium des Schlafes der Kirche:
die Gärten der Kirchen wurden zur Wüste der nationalen Religion, und die Welt
wurde zur antichristlichen Christenheit.“ ... „Gott will nicht, dass
im bürgerlichen Staate ein einheitlicher Glaube zum Gesetz erhoben und
erzwungen wird. Solche erzwungene Einheit wird früher oder später zu
Bürgerkrieg und Gewissensknechtung führen ... Es ist Gottes Wille und Gebot,
dass alle Menschen in allen Nationen und Ländern das Recht haben, den heidnischsten,
jüdischsten, türkischsten oder antichristlichsten Glauben zu bekennen und den
entsprechenden Gottesdienst zu halten. Echte bürgerliche Gemeinschaft und christlicher
Glaube können beide zusammen in einem Staate gedeihen, auch wenn man andere
oder konträre Auffassungen duldet, mögen sie nun jüdisch oder heidnisch sein.“[2]
Bis auf die Katholiken wählten alle Kirchen in Nordamerika (die sich
gegenseitig als „Denominationen“ anerkannten) kollegiale Gemeindeordnungen mit
starken Mitbestimmungselementen. Diese kirchliche Praxis wirkte dann auch auf
die politische Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ein: die
repräsentative Demokratie. Die freie Religionsausübung und gegenseitige Toleranz
wurde in den Bill of Rights (1776) geregelt: „Religion oder die Pflicht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die
Art, wie wir ihr nachkommen, kann lediglich durch Vernunft oder Überzeugung
geleitet werden, nicht durch Zwang oder Gewalt, und deshalb haben alle Menschen
gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion gemäß den Geboten des
Gewissens; es ist eine gegenseitige Pflicht aller, christliche Geduld, Liebe
und Güte im Verkehr untereinander zu üben.“[3]
In der Verfassung (1787) wird festgelegt, dass die Übernahme von politischen
Ämtern nicht von irgendeiner Religionszugehörigkeit abhängig gemacht werden
darf – Religion wird zur Privatsache erklärt. Kirchensteuern werden nicht
erhoben. Diese Denominationen werden vielmehr von
freiwilligen Spenden ihrer Mitglieder finanziert. Der Staat mischt sich in die
inneren Angelegenheiten der Freikirchen nicht ein – solange sie nicht den Staat
selbst bekämpfen.
Im Laufe des 19. und 20.
Jahrhundert haben die freikirchlich organisierten Religionsgemeinschaften in
allen westlichen Demokratien die rechtliche Anerkennung erhalten. In Deutschland konnten sich die
Freikirchen seit der Reichsgründung 1871 entfalten. Sie wurden als Minderheiten
von den Volkskirchen oft als „Sektierer“ beurteilt, aber ihr Rechtsstatus war
ungefährdet. Deutsche Freikirchen waren von nationalistischen Tendenzen leider
nicht frei. Im Dritten Reich passten sie sich dann oft über das nötige Maß
hinaus ängstlich an, um nicht verboten zu werden. Die Aufarbeitung des
Verhaltens während des Dritten Reiches steht in manchen Freikirchen noch in den
Anfängen, weil ein Problembewusstsein nur ansatzweise vorliegt.[4]
Freikirchen müssen lernen, dass das Recht, vom Staat unabhängig zu sein, auch
die Pflicht einschließt, nicht nur in bejahender, sondern auch in kritischer
Weise die politischen Entwicklungen in dem Staat zu begleiten, in dem sie
leben. Dann können sie ihre eigentliche Stärke, eine mittelgroße Lebens-, Lern-
und Sinngemeinschaft zwischen Individuum einerseits und Großinstitutionen wie
dem Nationalstaat andererseits zu sein, voll ausspielen. Freikirchen als
freiwillige Gesinnungsgemeinschaften können heutigen Menschen ein stützendes
und förderndes soziales Netzwerk bereitstellen, das sie zu Sinnvertrauen in
einer pluralisierten Gesellschaft ermutigt.[5]
„Freiheit“ entsteht dort, wo das
Evangelium in seinem eigentlichen Wesen verkündigt wird. Die Gemeinde wird dann eine Gemeinschaft von freien Menschen,
herausgerufen aus der Unmündigkeit und Abhängigkeit von belastenden Bindungen.
Man atmet auf in einer Gemeinde, die sich vom Geist der „Freiheit“ durchwehen
lässt, die in Christus besteht. Die Gemeinde sollte eine freie Vereinigung von
Menschen sein, die mit dem Gott verbunden sind, der selbst in sich eine
Liebesgemeinschaft bildet (die Trinität von Vater, Sohn und Heiligem Geist).
Aufgrund der „Freiheit“ sind vielfältige, vom Geist des „allgemeinen
Priestertums“ geprägte Aktivitäten in der Gemeinde möglich: unterschiedliche
Lebensformen, mannigfaltige soziale und kulturelle Aktivitäten, vielfältige
Gottesdienste, die unterschiedliche Bedürfnisse ansprechen. Zur „Freiheit“
gehört auch die Freiheit von staatlicher Bevormundung. Die freie Gemeinde wird
vom Staat nicht bevormundet, sie bevormundet aber auch nicht den Staat.
Allerdings sind ihre Mitglieder frei
zum Engagement für andere, zum Aufbau tragfähiger Bindungen nicht nur im
privaten und religiösen, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich (Recht,
Wissenschaft, Politik, Medien…). Denn je größer die innere Freiheit, desto
größer ist auch der Wunsch, die menschliche Gesellschaft und Kultur gestalten und sich auf ihre Probleme
und Herausforderungen einzulassen.
[1] Text (leicht umgestellt)
in: Heiko A. Obermann, Kirchen- und
Theologiegeschichte in Quellen, Band III, Die Kirche im Zeitalter der
Reformation, 2. Auflage 1985, S. 124.
[2] Texte in: Walter
Eberhardt, Aufklärung und Pietismus
1648–1800, Hamburg 1978, S. 413f.
[3] Text in: Hans-Walter
Krumwiede u.a., Kirchen- und
Theologiegeschichte in Quellen, Band IV/2, Neuzeit, 1. Auflage 1980, S. 154
[4] Von den Siebenten-Tags-Adventisten
in Deutschland und Österreich liegt seit 2005 ein sehr offenes und klares
Schuldbekenntnis zum Versagen im 3. Reich vor.
[5] Peter Berger und Thomas
Luckmann nennen in ihrem Buch „Modernität, Pluralismus und Sinnkrise“ solche
mittelgroßen Solidaritätsräume und Netzwerke „intermediäre Institutionen“ (S.
59). Dazu gehören neben Kirchengemeinden auch Vereine, Bürgerinitiativen,
örtliche politische Parteiorganisationen u.a.
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