Mittwoch, 27. März 2013

Christliche Freiheit Teil 7 - das Modell der freikirchlichen Gemeinde


Im 12. und 13. Jahrhundert entwickelte sich in Europa eine faszinierende kulturelle Dynamik. Städte entstanden, die ersten Hochschulen wurden gegründet, der interkulturelle Austausch und damit auch der Handel intensivierte sich, neue Erfindungen, zumal in der Landwirtschaft, setzten sich durch. Gab es bis etwa 1150 fast nur Bauern (ca. 95 % der Bevölkerung), die auf dem Lande lebten, grundbesitzende Adelige, von denen die Bauern abhängig waren und die Geistlichen, die überwiegend in Klöstern lebten, so wachsen jetzt immer mehr Städte heran, in denen ein neuer Menschentypus entsteht, der „Stadtbürger“. Von der Verweltlichung der Kirche abgestoßen, suchten manche Städter neue Glaubensformen. Franziskus z.B. war der Sohn eines reichen Bürgers, eines Tuchhändlers. Mit seinem Lebensstil absoluter Armut, Jesus als Vorbild, war er ein Provokateur, der aber im Schoß der Kirche bleiben wollte. Woanders entstanden selbstorganisierte Brüdergemeinschaften und „Frauenhäuser“ (Beginen). Petrus Waldes war ein reicher Kaufmann aus Lyon, der eine Generation vor Franziskus ab 1176 die apostolische Armut in der Nachfolge Christi predigte. Die Bibel, in die Volkssprache übersetzt, war ihm und seinen „Brüdern“ die einzige Richtschnur des Handelns. Zunächst geduldet, wurden die Waldenser 1184 exkommuniziert. Sie verstanden sich aufgrund ihrer Armut als wahre Nachfolger der Urchristen und sprachen dem Hochklerus (Papst, Erzbischöfe, Bischöfe) eine besondere Autorität ab. Die trotz Verfolgung missionsfreudigen Waldenser entwickelten sich in Europa zur ersten „freikirchlichen“ Gruppierung, die ein gemeindliches Christentum in genossenschaftlicher, aber nicht klösterlicher Form lebte – unabhängig von staatlicher oder päpstlicher Aufsicht.

Ein Waldenser unterstützte im 15. Jahrhundert die „Böhmisch-mährische Brüderunität“ bei ihrer Gemeindeorganisation. Diese „Brüdergemeinschaft“ legte Wert darauf, das christliche Leben ganz an der Bibel auszurichten und von jeglicher weltlichen Gewalt getrennt zu sein. Der Laienpriester wurde von der Gemeinde selbst gewählt, Entscheidungen immer von einem Rat oder einer Synode gefällt. Im 16. Jahrhundert schlossen sich beide Bewegungen der Reformation an. Die Brüdergemeinschaft blieb gegen den Trend der Zeit freie Gemeindekirche, bis sie bei der gewaltsamen Rekatholisierung Böhmens und Mährens während des Dreißigjährigen Krieges fast beseitigt wurde. Im polnischen Exil konnte der außergewöhnliche Pädagoge Comenius wirken, der sich für einen europäischen Frieden einsetzte. Die Brüdergemeinde wurde durch Graf Zinzendorf (1700–1760) erneuert. Die „Herrenhuter“ waren ein quicklebendige, von „Jesusliebe“ geprägte Gemeinde, in der christliches Gemeinschaftsleben freiwillig, also ohne Zwang, gelebt wurde und Frauen als gleichwertige Mitglieder im Gemeindeleben anerkannt waren. Auch diese Freikirche gab sich eine kollegiale Gemeindeordnung (Rat, Synode), die der Geschwisterliebe entsprechen sollte

Zu den frühen Freikirchen gehörten auch die „Täufer“ (später „Baptisten“), die Luthers Ruf zurück zur Heiligen Schrift besonders ernst nahmen und daher die Kindertaufe – anders als Luther selbst – ablehnten. Sie konnten sich Gemeinde nur als freiwilligen Zusammenschluss all derjenigen vorstellen, die sich bewusst dem Evangelium zugewendet haben: „Christus selber sagt, dass man vorher glauben solle, ehe man die Taufe empfange, oder man handelt gegen seine Worte, Lehre und Einsetzung; und das ist eine greuliche Abgötterei, nicht gehorsam gegenüber den Worten des Herrn zu sein.“[1] Die Orientierung allein an der Schrift ist deutlich herauszuhören.

Die „Reformierten“ (Zwingli, Calvin) entwickelten eine  presbyterial-synodale Kirchenordnung, die sich deutlich vom lutherischen „landesherrlichen Kirchenregiment“ unterschied. Calvin legte Wert darauf, dass die Kirche sich selbst organisiert. Sie soll ihre Ältesten (Presbyter) selbst wählen und alle wichtigen Fragen nicht durch einen Einzelnen, sondern durch Gremien (Synoden) entscheiden lassen. So wurde der Mitbestimmungsgedanke der modernen Demokratien nicht unerheblich in den calvinistischen Gemeinden vorbereitet.

Besonders in England und in den englischen Kolonien in Nordamerika wirkte die calvinistische Kirchenorganisation weiter. Viele in Europa verfolgte Christen, Protestanten und Katholiken fanden in Amerika eine neue Heimat. Sie hielten an ihren Konfessionen fest, aber nach recht kurzer Zeit setzte sich bei fast allen Siedlern die Idee der Toleranz durch: Roger Williams schrieb 1647: Als Konstantin die Grenzen seiner eige­nen Gebote und der Gebote Gottes durchbrach und das Schwert der zivilen Macht zog, um die Gewissen anderer zum Vorteil der Christen zu unterdrücken, begann das große Mysterium des Schlafes der Kir­che: die Gärten der Kirchen wurden zur Wüste der nationalen Religion, und die Welt wurde zur antichristlichen Christenheit. ... Gott will nicht, dass im bürgerlichen Staate ein einheitlicher Glaube zum Gesetz erhoben und erzwungen wird. Solche erzwungene Einheit wird früher oder später zu Bürgerkrieg und Gewissensknechtung führen ... Es ist Gottes Wille und Gebot, dass alle Menschen in allen Nationen und Ländern das Recht haben, den heidnischsten, jüdischsten, türkischsten oder antichristlichsten Glauben zu bekennen und den entsprechenden Gottesdienst zu halten. Echte bürgerliche Gemeinschaft und christlicher Glaube können beide zusammen in einem Staate gedeihen, auch wenn man andere oder konträre Auffassungen duldet, mögen sie nun jüdisch oder heidnisch sein.[2] Bis auf die Katholiken wählten alle Kirchen in Nordamerika (die sich gegenseitig als „Denominationen“ anerkannten) kollegiale Gemeindeordnungen mit starken Mitbestimmungselementen. Diese kirchliche Praxis wirkte dann auch auf die politische Verfassung der Vereinigten Staaten von Amerika (USA) ein: die repräsentative Demokratie. Die freie Religionsausübung und gegenseitige Toleranz wurde in den Bill of Rights (1776) geregelt: „Religion oder die Pflicht, die wir unserem Schöpfer schulden, und die Art, wie wir ihr nachkommen, kann lediglich durch Vernunft oder Überzeugung geleitet werden, nicht durch Zwang oder Gewalt, und deshalb haben alle Menschen gleichen Anspruch auf freie Ausübung der Religion gemäß den Geboten des Gewissens; es ist eine gegenseitige Pflicht aller, christliche Geduld, Liebe und Güte im Verkehr untereinander zu üben.[3] In der Verfassung (1787) wird festgelegt, dass die Übernahme von politischen Ämtern nicht von irgendeiner Religionszugehörigkeit abhängig gemacht werden darf – Religion wird zur Privatsache erklärt. Kirchensteuern werden nicht erhoben. Diese Denominationen werden vielmehr von freiwilligen Spenden ihrer Mitglieder finanziert. Der Staat mischt sich in die inneren Angelegenheiten der Freikirchen nicht ein – solange sie nicht den Staat selbst bekämpfen.

Im Laufe des 19. und 20. Jahrhundert haben die freikirchlich organisierten Religionsgemeinschaften in allen westlichen Demokratien die rechtliche Anerkennung erhalten. In Deutschland konnten sich die Freikirchen seit der Reichsgründung 1871 entfalten. Sie wurden als Minderheiten von den Volkskirchen oft als „Sektierer“ beurteilt, aber ihr Rechtsstatus war ungefährdet. Deutsche Freikirchen waren von nationalistischen Tendenzen leider nicht frei. Im Dritten Reich passten sie sich dann oft über das nötige Maß hinaus ängstlich an, um nicht verboten zu werden. Die Aufarbeitung des Verhaltens während des Dritten Reiches steht in manchen Freikirchen noch in den Anfängen, weil ein Problembewusstsein nur ansatzweise vorliegt.[4] Freikirchen müssen lernen, dass das Recht, vom Staat unabhängig zu sein, auch die Pflicht einschließt, nicht nur in bejahender, sondern auch in kritischer Weise die politischen Entwicklungen in dem Staat zu begleiten, in dem sie leben. Dann können sie ihre eigentliche Stärke, eine mittelgroße Lebens-, Lern- und Sinngemeinschaft zwischen Individuum einerseits und Großinstitutionen wie dem Nationalstaat andererseits zu sein, voll ausspielen. Freikirchen als freiwillige Gesinnungsgemeinschaften können heutigen Menschen ein stützendes und förderndes soziales Netzwerk bereitstellen, das sie zu Sinnvertrauen in einer pluralisierten Gesellschaft ermutigt.[5]

„Freiheit“ entsteht dort, wo das Evangelium in seinem eigentlichen Wesen verkündigt wird. Die Gemeinde wird dann eine Gemeinschaft von freien Menschen, herausgerufen aus der Unmündigkeit und Abhängigkeit von belastenden Bindungen. Man atmet auf in einer Gemeinde, die sich vom Geist der „Freiheit“ durchwehen lässt, die in Christus besteht. Die Gemeinde sollte eine freie Vereinigung von Menschen sein, die mit dem Gott verbunden sind, der selbst in sich eine Liebesgemeinschaft bildet (die Trinität von Vater, Sohn und Heiligem Geist). Aufgrund der „Freiheit“ sind vielfältige, vom Geist des „allgemeinen Priestertums“ geprägte Aktivitäten in der Gemeinde möglich: unterschiedliche Lebensformen, mannigfaltige soziale und kulturelle Aktivitäten, vielfältige Gottesdienste, die unterschiedliche Bedürfnisse ansprechen. Zur „Freiheit“ gehört auch die Freiheit von staatlicher Bevormundung. Die freie Gemeinde wird vom Staat nicht bevormundet, sie bevormundet aber auch nicht den Staat. Allerdings sind ihre Mitglieder frei zum Engagement für andere, zum Aufbau tragfähiger Bindungen nicht nur im privaten und religiösen, sondern auch im gesellschaftlichen Bereich (Recht, Wissenschaft, Politik, Medien…). Denn je größer die innere Freiheit, desto größer ist auch der Wunsch, die menschliche Gesellschaft und  Kultur gestalten und sich auf ihre Probleme und Herausforderungen einzulassen.



[1] Text (leicht umgestellt) in: Heiko A. Obermann, Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Band III, Die Kirche im Zeitalter der Reformation, 2. Auflage 1985, S. 124.
[2] Texte in: Walter Eberhardt, Aufklärung und Pietismus 1648–1800, Hamburg 1978, S. 413f.
[3] Text in: Hans-Walter Krumwiede u.a., Kirchen- und Theologiegeschichte in Quellen, Band IV/2, Neuzeit, 1. Auflage 1980, S. 154
[4] Von den Siebenten-Tags-Adventisten in Deutschland und Österreich liegt seit 2005 ein sehr offenes und klares Schuldbekenntnis zum Versagen im 3. Reich vor.
[5] Peter Berger und Thomas Luckmann nennen in ihrem Buch „Modernität, Pluralismus und Sinnkrise“ solche mittelgroßen Solidaritätsräume und Netzwerke „intermediäre Institutionen“ (S. 59). Dazu gehören neben Kirchengemeinden auch Vereine, Bürgerinitiativen, örtliche politische Parteiorganisationen u.a.

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