Mittwoch, 30. September 2009

Berührt-sein

Heute greife ich zu einem älteren Heft des Materialdienstes der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (12/2006) und entdecke darin einen Artikel der von mir sehr geschätzten Psychotherapeutin Eva Jaeggi (S. 463-470). Sie fragt darin, welche Hilfe die Psychotherapie bei der Suche nach einem „sinnvollen“ Leben bieten kann. Ich zitiere daraus Absätze, die das Phänomen des "Berührt-seins" bewußtmachen und als besonders sinnerfüllt die Verknüpfung von Berührt-sein und Verantwortung/Verpflichtung hervorheben.

"Das Erlebnis der Sinnlosigkeit des eigenen Lebens bedeutet…, allen Vorstellungen zufolge, die ich gefunden habe, dass man innerlich von nichts mehr berührt werden kann, dass man das Gefühl, mit einer Sache verbunden zu sein, nicht mehr erreichen kann.
Ich denke, dass jeder Mensch das Gefühl des intensiven Berührt-seins irgendwann einmal gekannt hat — und sei es in der Kindheit. Die Vorfreude auf Weihnachten oder den Geburtstag, der Eifer, mit dem Kinder sehr ernsthaft und glücklich an einem Bauwerk arbeiten oder eine Babypuppe wickeln — das alles sind, sofern ein Kind nicht psychisch sehr krank ist - Tätigkeiten, die den von Huizinga so genannten „heiligen Ernst" des Spiels verkörpern, in dem Person und Werk sich nahtlos verbinden.
Jeder Mensch weiß zumindest aus der kindlichen Erinnerung, wie solch ein „Berührt-sein" aussieht, die meisten aber kennen es natürlich auch aus späteren Zeiten: das Anhören von Musik, das Glück einer Verliebtheit oder ein Naturerlebnis können so stark sein, dass daraus sehr glückliche Stunden oder Tage entstehen, in denen die Frage „wie sinnvoll" das Leben sei, gar nicht auftaucht.
Nun wäre es unsinnig zu verlangen, dass man diese meist mit Euphorie verbundenen Erfahrungen sehr häufig macht. Man kann nicht im Dauerzustand der Erregung leben. Das „Berührt-sein", so müsste man sagen, kann nicht nur in den „Peak-Erlebnissen" des Außergewöhnlichen bestehen. Das „Berührt-sein" kann still vor sich gehen, kontinuierlich — wie in der Zufriedenheit mit einer Arbeit, mit einer schönen Reise, einem interessanten Gespräch, oder eben mit dem Alltäglichen. Das „Berührt-werden" muss nicht dauernd spürbar sein.
Wenn wir es in der Sprache der Psychoanalyse ausdrücken: dem eigenen Leben Sinn zu geben heißt: Dinge, Aktivitäten und Geschehnisse libidinös besetzen zu können, also psychische Energie (wir können natürlich auch Interessen sagen) - und dies scheint mir außerordentlich wichtig — von sich selbst abziehen zu können, mit einer Sache, einer Aktivität, einem anderen Menschen zeitweise verschmelzen zu können ohne dass nur die eigene Person dabei wichtig ist.
Wenn wir also imstande sind, unsere narzisstische Liebe, also die auf uns selbst gerichteten Interessen, zurückzustellen, indem wir eine andere Sache in den Mittelpunkt stellen — dann würden wir wohl das erreichen, was man mit erlebtem „Sinn" bezeichnen könnte. Diesen Zustand könnte man auch Selbsttranszendenz nennen, und viele Religionswissenschaftler sehen darin die Essenz der religiösen Erfahrung.
Die Unfähigkeit, von sich selbst abzusehen, alles, was man tut oder erlebt, immer nur auf die eigene Person zu beziehen, macht auf Dauer gesehen unglücklich und erzeugt das Gefühl, es sei alles „sinnlos". Der Narziss ist, wie man weiß, alles andere als glücklich. Die Welt und alle Tätigkeiten nur immer wieder unter dem Gesichtspunkt der eigenen Person zu betrachten — also bewusst oder unbewusst zu fragen: Nützt es mir? Stehe ich dabei im Mittelpunkt? Bekomme ich genügend Prestige – erzeugt auf die Dauer Leere und Langeweile.

Was immer uns berührt und heraushebt aus der Alltäglichkeit, kann in einer guten Psychotherapie durch die längere Überprüfung im Dialog auf seine Tauglichkeit für ein individuelles Leben geprüft werden. Die aufmerksame Begleitung, die ein Mensch durch die Therapie erfährt, zwingt ihn zur sorgfältigen Überprüfung dessen, was er erfahren hat an Transzendieren seiner Person und dessen, woran er sein Herz gehängt hat; eine Überprüfung auch dessen, was er für so wertvoll hält, dass er sich selbst in einen „Dienst" dieses Wertes stellt, dafür viel opfert und anderes darüber vielleicht vernachlässigt (so wie workaholics das oft tun). Aber auch Erfahrungen der Selbsttranszendenz in der Musik, im Gebet oder im Verständnis für einen Gedanken (vielleicht sogar im selbständigen Erarbeiten eines solchen) zu erringen — das alles bedarf einer sehr sorgsamen Überprüfung im eigenen Leben.
Wie wir aus der Psychoanalyse wissen, kann sehr vieles der Abwehr dienen: der Abwehr von Konflikten, von Ambivalenzen, von unerträglicher Trauer und Angst. Eine Überprüfung daraufhin, ob diese Selbsttranszendenz die Möglichkeit, sich autonom zu entfalten, sich freizumachen von beengenden Vorurteilen und kreativer mit der Welt umzugehen, bietet: das alles lässt sich nur in einem längeren Prozess der Überwachung des eigenen Lebens - am besten im Angesicht eines wohlwollenden und unbestechlichen Anderen, z.B. eines Therapeuten — feststellen. Auch Selbsttranszendenz, das Aufsuchen von die Person übersteigenden Möglichkeiten kann dem Narzissmus dienen. So betrachtet, ist es nicht nur ein Augenblicksgefühl, das Sinn verleiht, sondern die Summe vieler Erfahrungen, die langsam dazu beitragen, dass das eigene Leben einem als eines erscheint, das erfüllt ist, auch im Zusammenhang mit anderen Menschen und wo die Frage nach dem „Sinn" des eigenen Lebens gar nicht mehr auftaucht. Wo Verantwortung gefühlt wird und diese ernst genommen und in Handlung übersetzt wird, verblasst die Sinnfrage.
Spirituelle Erfüllung, also die libidinöse Besetzung einer Idee, einer Verpflichtung oder eines Ideals, das die eigene Personen transzendiert, kann dann nie Selbstzweck bleiben. Immer gründet das Sinnerleben letztlich in Verpflichtungen, die außerhalb der narzisstischen Besetzung der eigenen Person stehen."

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