Es geschah im 15. Jahr des Tiberius, als er 24 Jahre alt war. Er kam mit einem Pharisäer ins Gespräch, der für seine Synagogenschule Papyrusbögen bestellt hatte. Er stöhnte: „Ständig sind hier in Galiläa religiöse Spinner unterwegs. Sie verwirren die Gedanken meiner Gemeindeglieder. Letzte Woche kam eine ganze Gruppe vorbei, Frauen und Männer, die sich um einen Jesus – aus Nazareth soll er stammen – geschart haben und die Gegend unsicher machen. Sie nahmen am Synagogengottesdienst teil und dieser Jesus stand bei der Lesung auf und las aus der Jesajaschriftrolle vor: ‚Der Geist des Herrn hat von mir Besitz ergriffen. Denn der Herr hat mich gesalbt und dadurch bevollmächtigt, den Armen gute Nachricht zu bringen. Er hat mich gesandt, den Verzweifelten neuen Mut zu machen, den Gefangenen zu verkünden: Ihr seid frei! Eure Fesseln werden gelöst! Er hat mich gesandt, um das Jahr auszurufen, in dem der Herr sich seinem Volk gnädig zuwendet.‘ Und dann sagte er mit vollem Ernst: ‚Das ist jetzt unter euch erfüllt.‘ Ich dachte, mich trifft der Schlag. Nach dem Gottesdienst hielt sich dieser Jesus auf dem Dorfplatz auf und gab sich mit den Bettlern und Behinderten unseres Dorfes ab. Einige chronisch Kranke liefen herzu und riefen: ‚Jesus, heile uns!‘ Es war nicht zum Aushalten. Aus dem Gewühl platzte nach einiger Zeit Bartholomäus heraus – seit dem 6. Lebensjahr war er blind – und schrie: ‚Ich kann sehen, ich kann sehen!‘ Wenn hinter solchen Aktionen nicht der Beelzebul selbst steht!“
Schon in Alexandria war Kriton auf den Straßen und Plätzen jüdischen Wunderheilern begegnet und er konnte darum die Klage des Gelehrten nachvollziehen. Einige Tage später besuchte er in Kapernaum einen römischen Hauptmann, der der örtlichen Synagoge Papryrusrollen schenken wollte. Kriton war überrascht, als dieser ihm fast erregt mitteilte: „Hast du eigentlich schon von Jesus gehört? Er hat meinen sterbenskranken Sohn geheilt, ja er war schon tot und er hat ihn wieder erweckt! Diesen Jesus mußt du kennenlernen. Ich kann wieder an einen Gott glauben.“ Da Kriton einige Tage Zeit hatte, beschloß er – neugierig geworden – den Spuren dieses Jesus nachzugehen. Er begann damit, auf dem Marktplatz bei kleineren Erledigungen die Bauern zu fragen, ob sie schon einmal etwas von Jesus gehört hätten. Ja, bestätigten sie, er würde Menschen heilen, Dämonen austreiben und unerhörte Lehren von sich geben. Einer der Bauern nahm ihn zur Seite und flüsterte ihm zu: „Seine Jünger glauben, er sei der Prophet Elia oder gar der Messias selbst. Er widerspricht der Tora des Mose. Er heilt am Sabbat. Er ist der neue Gesetzgeber. Er will in Jerusalem die Entscheidung suchen. Das Ende der Römerherrschaft ist nah.“ Dann legte er seinen Zeigefinger auf die Lippen. Er schaute sich um und nach kurzem Schweigen ergänzte er: „Du kannst ihn geradewegs nach Osten am See Genezareth finden, er predigt dort noch einige Tage. Wer Ohren hat, der höre!“ Kriton war wie elektrisiert, denn das hörte sich sehr seltsam und aufregend an. So wanderte er am nächsten Tag die 12 km hinunter zum See. An einem Hügel nahe des Strandes konnte er eine größere Menschenmenge erkennen. Er nahte sich ihr. Eine Stimme wurde von unten zu Kriton hoch getragen, und er verstand nur einige Wortfetzen: „...Glücklich ihr, die ihr weint, denn ihr werdet lachen... Wehe euch, die ihr jetzt lacht, ihr werdet weinen ... Ich bin nicht gekommen, den Gesunden zu helfen, sondern den Kranken ... Der Sohn spricht nichts, was nicht der Vater zu ihm gesagt hat ... Mit dem Reich meines Vaters verhält es sich wie mit einem Mann, der einen Schatz auf fremden Acker gefunden hatte. In seiner Freude verkaufte er alles, was er hatte, und kaufte dafür den Acker mit dem Schatz ... Ihr habt gehört, daß zu den Alten gesagt wurde ... Ich aber sage euch: Verzichtet auf Gegenwehr, wenn euch jemand Böses tut ...“
Die Worte klangen fremd in Kritons Ohren, aber sie besaßen eine urtümliche Kraft. Das war absolut neu. Da las keiner in der Tora und brachte dann eine Auslegung hervor. Nein, hier sprach einer mit einer ihm völlig selbstverständlichen Vollmacht. Es war provokativ, anders, aber nicht verrückt. Es war ihm, als sei einer der alten Propheten wieder auferstanden, ein Amos, Jeremia oder Hosea, aber das hier wirkte noch mächtiger, noch autoritärer, noch eigenmächtiger als es je ein Prophet als Bote Gottes hätte sagen können. Es irritierte Kriton. Was wollte dieser Mann? Er war kein Schriftgelehrter. Er war kein Zelot, kein Tempelpriester und kein Essener. Kriton fand keinen Begriff für ihn. Der Messias soll er sein? Dieser Mann mit einigen Männern und Frauen um sich, ohne Waffen und ohne Beziehungen zu Jerusalem, dieser Lehrer und Heiler, der Wehrlosigkeit predigt? Es kam Kriton absurd vor, daß dieser die Befreiung Israels von Rom, die Friedensherrschaft Israels über die ganze Welt aufrichten könnte. Da stand dieser junge Händler an einem milden Frühsommerabend am Rande einer Menge einfacher Menschen: Bauern, Tagelöhner, ein paar Pharisäer sah er auch, Zöllner, dann Krüppel, Irre, und viele Frauen, sogar mit Kindern. Sie fingen an zu essen, auch Kriton reichte man ein Stück Brot und man lagerte auf grünem Gras. Er fühlte sich plötzlich sehr wohl und geborgen. Er fragte einige Herumsitzende, für wen sie diesen Jesus halten: „Er ist Elia!“ – „Er ist ein neuer Prophet!“ – „Er ist der ‚Menschensohn‘!“ So antworteten sie sehr uneinig.
Kriton beschloß, noch am Abend zu seiner Herberge zurückzukehren. Er wollte alleine sein und in der Tora lesen. Er wollte wieder Frieden finden bei Mose. Die Worte dieses Jesus wühlten ihn doch zu sehr auf. Sie verwirrten ihn. Er brauchte Abstand. Es war nur wenig gewesen, aber Kriton ahnte, daß etwas Radikales ihn in seiner kaufmännischen, geordneten Welt massiv stören wollte. Er suchte Distanz und beschloß, möglichst bald nach Hause zu reisen. Tatsächlich versank das intensive Erlebnis langsam hinter dem Horizont der Vergangenheit.
Montag, 3. August 2009
Abonnieren
Kommentare zum Post (Atom)
Keine Kommentare:
Kommentar veröffentlichen