Sonntag, 29. November 2009

Angstfrei glauben

Ich bin dankbar, dass ich durch meine Eltern eine religiöse Erziehung erleben konnte, die in mir keine Ängste bezüglich Gott und Religion hervorrief (ich bin mir jedenfalls keiner bewußt - unbewußt gibt es vielleicht doch welche, aber im Unbewußten sind sie zur Zeit gut aufgehoben :))
Angst kenne ich natürlich - vor anderen Menschen, in unsicheren Situationen, in einer steilen Bergwand, vor Ablehnung durch andere, vor Einsamkeit, vor "Autoritäten" - Angst kann mich schon hin und wieder mutlos machen.
"In der Welt habt ihr Angst", so verständnisvoll spricht Jesus zu seinen Jüngern (Johannes 16,33). Wäre es da nicht widersinnig, wenn Gott ein weiterer Angstfaktor im Leben wäre? Angst dann zusätzlich noch vor Gott und seinen Ansprüchen? Angst, verloren zu gehen? Ihm nicht zu genügen? Angst vor seiner Allmacht? Weg damit!
"Habt Mut! Ich habe die Welt besiegt". Der Glaube, den Jesus Christus durch das Evangelium erweckt, führt aus der Angst heraus und ermutigt! Mit Christus verbunden sein, an ihn glauben, der mich mehr liebt als ich mich selbst, der die schönen und problematischen Merkmale meiner Persönlichkeit umfassend angenommen hat und mir seine Gutheit und Schönheit ganz geschenkt hat, der sich aufgrund seiner Liebe nie mehr von mir lossagen wird - das ist das Gegenmittel gegen allerlei Ängste, die das Leben in der Welt auslöst.
Gott in Christus nimmt uns Angst, begleitet uns in der Angst, trägt uns durch die Angst, aber er macht uns nicht Angst.
Denn um die Angst zu vertreiben durch die vollkommene Liebe, dazu ist Gott in Christus Mensch geworden.

Zusage im Matthäusevangelium

Niemand, der das Matthäusevangelium liest, kann sich des Eindrucks erwehren, dass die Ansprüche, die Jesus an seine NachfolgerInnen stellt, hoch sind, und nicht wenige Warnungen aufgesprochen werden, die eine kritische Selbstreflexion bei den LeserInnen auslösen sollen.
Dieser Anspruch aber ist eingeklammert in einen großartigen Zuspruch der Nähe Gottes in Jesus:
1,20-23: "Josef, du Sohn Davids, fürchte dich nicht, Maria, deine Frau, zu dir zu nehmen; denn was sie empfangen hat, das ist von dem Heiligen Geist. Und sie wird einen Sohn gebären, dem sollst du den Namen Jesus geben, denn er wird sein Volk retten von ihren Sünden. Das ist aber alles geschehen, damit erfüllt würde, was der Herr durch den Propheten gesagt hat, der da spricht (Jesaja 7,14): »Siehe, eine Jungfrau wird schwanger sein und einen Sohn gebären, und sie werden ihm den Namen Immanuel geben«, das heißt übersetzt: Gott mit uns.
28,20: "Und siehe, ich bin bei euch alle Tage bis ans Ende der Welt".
Schließlich noch in der Mitte des Evangeliums (18,20): "Wo zwei oder drei in meinem Namen versammelt sind, da bin ich mitten unter ihnen."

Donnerstag, 26. November 2009

Geborgenheit

Für die sogenannte "Positive Psychologie" ist Geborgenheit ein wesentlicher Leitbegriff. In der Zeitschrift "Psychologie heute" (12/2009) wird Hans Mogel interviewt, der sich seit vielen Jahren mit dem Gefühl der Geborgenheit beschäftigt. Er stellt Geborgenheit in den Kontext von Behaglichkeit, Wohlbefinden, Wärme, Zuneigung, Nähe, Liebe, Akzeptanz, Verständnis, Schutz, innerer Ruhe und Sicherheit.
Bemerkenswert finde ich folgenden Hinweis: "Die Griechen bezeichneten Geborgenheit übrigens als oikos, gleichzusetzen mit unserem Wort 'Haus', was bedeutet, bei sich zu Hause zu sein, Halt zu finden und eine sicheres, bergendes Dach über sich zu wissen. Wer sich, wo auch immer, zu Hause fühlt, erlebt sich zugleich geborgen." (S. 78)
Dieser Satz hat mir bewusst gemacht, dass viele biblische Bilder, Metaphern und Symbole das Gefühl der Geborgenheit vermitteln wollen, z.B. im "Haus Gottes" sein, im Tempel oder dann in der Gemeinde, oder "in Christus sein". Der ganze Psalm 23, oft "Vertrauenspsalm" benannt, malt Bilder der Geborgenheit in unterschiedlichen, auch gefährlichen Situationen. Die Anrede Gottes als "mein Vater" vermittelt Jesus und seinen NachfolgerInnen Geborgenheit, ebenso die Gewissheit, dass dieser "himmlische Vater" jederzeit für sie sorgt, auch wenn sie kein zu Hause während ihrer abenteuerlichen missionarischen Wanderschaft haben. Sorglosigkeit, weil man sich bei aller Ausgesetztheit der Situation ganz geborgen weiß.
Es lohnt sich, Glaube und Geborgenheit in Beziehung zueinander zu setzen und gezielt nach biblischen Aussagen zu suchen, die Ausdruck von Geborgenheit in Bezug auf Gott sind.

Dienstag, 24. November 2009

Jeden Tag bewußt leben - der Rat Senecas

Seneca schreibt in seiner Rolle als philosophischer Berater an seinen jugendlichen Freund Lucilius:
"Das ganze Leben besteht aus Abschnitten in Form von größeren und kleineren konzentrischen Kreisen: einer ist es, der alle übrigen umfasst und umringt; dieser reicht vom Geburts- bis zum Todestag; es gibt einen zweiten, der die Jugendjahre einschließt; ein weiterer umspannt mit seinem Umfang die ganze Kindheit; hierauf folgt das Jahr als solches, welches alle Zeitabschnitte beinhaltet, aus deren Vervielfachung sich das Leben zusammensetzt; der Monat wird von einem engeren Kreis umgeben; den engsten Zirkel hat der Tag, doch auch dieser kommt vom Anfang zum Ende, vom Aufgang zum Untergang. [...] Daher ist jeder Tag so einzurichten, als würde er die Reihe der Tage beschließen und das Leben vollenden und erfüllen. Das… wollen wir aus gutem (Gewissen) tun und vor dem Schlafengehen fröhlich und heiter sagen: Ich hab' gelebt, und den Lauf, den das Schicksal gegeben, vollendet'. Den morgigen Tag, wenn der Gott ihn hinzufügt, wollen wir freudig annehmen. Derjenige ist ein über-glücklicher und sorgloser Besitzer seiner selbst, der das Morgen ohne ängstliche Unruhe erwartet. Jeder, der abends gesagt hat: Ich habe gelebt, steht täglich zu seinem Gewinn auf."
(Briefe 12,6-9; Übersetzung nach F. Loretto)

Sonntag, 22. November 2009

Das Matthäusevangelium - eine spannende Erzählung

Die Bergpredigt ist Teil des Matthäusevangeliums. Die Forschung an den synoptischen Evangelien (Markus, Matthäus, Lukas) hat in den letzten Jahren deutlich machen können, dass ihreAutoren nicht einfach einzelne Geschichten aneinanderreihten, sondern einen Plot entwickelten. Mit "Plot" ist der Spannungsbogen einer Erzählung gemeint, die beim Leser Interesse und Neugier erweckt, weiterzulesen oder weiterzuhören. Die Evangelien wollen daher nicht nur ausschnittsartig (perikopenweise) gelesen werden, wie es in Predigten, in der persönlichen Andacht oder auch im Religionsunterricht üblich ist. Sie sind so entworfen, dass sie auch in einem Zug von Anfang bis Schluss gelesen werden können. Ein "Plot" entwickelt Spannung vor allem dadurch, dass eine Hauptfigur, der Held, von einem eher stabilen Anfang her in Konflikte hineingerät bis hin zu einem dramatischen Höhepunkt, dem dann als Lösung ein kurzes Happy-End (oder ein tragisches Ende) der Erzählung folgt.
Welcher "Plot" macht das Matthäusevangelium spannend?

Martin Ebner skizziert ihn so:
"Obwohl Jesus durch seine Genealogie als Nachkomme des Königs Davids ausgewiesen ist (1,1-25) und mit seiner Geburt ein neuer Höhepunkt der Geschichte Israels erwartet werden darf (1,17), stößt er, als er in Israel öffentlich auftritt, auf erbitterte Ablehnung: allerdings nur bei den religiösen und politischen Autoritäten, den Schriftgelehrten und Pharisäern, den Hohenpriestern und Ältesten. Im Gegensatz dazu beginnen die Volksmengen, Jesus als „Sohn Davids" anzuerkennen (9,27.33f.; 12,23f.; 21,9.15), einzelne Notleidende rufen ihn mit diesem Titel um Hilfe an (9,27; 15,22; 20,30f.). Da ziehen die Hohenpriester und Ältesten einen Schlussstrich: Mit der Stimme des Volkes von Jerusalem fordern sie seinen Tod (27,20.25). Er wird gekreuzigt. Aber: Von Gott auferweckt, stellt sich Jesus auf dem Berg in Galiläa, auf dem er bereits seine programmatische Rede, die Bergpredigt (5-7), gehalten hat, seinen Schülern als Universalherrscher vor, dem von Gott „alle Vollmacht über Himmel und Erde gegeben worden ist" (28,18). Er fordert seine Schüler dazu auf, was er ihnen zu Lebzeiten streng verboten hat: zu allen Völkern, also auch zu den Heiden zu gehen und sie ebenfalls zu seinen Schülern zu machen, d. h. sie zu taufen und sie zu lehren, „alles zu befolgen, was ich euch aufgetragen habe" (28,19f.). Damit wird das „Evangelium vom Königtum", wie es Jesus selbst verkündet hat (4,23-9,35) weiterverkündet, allerdings über die Grenzen Israels hinaus, aber streng entlang der Ethik, wie sie Jesus zu Lebzeiten gelehrt hat und wie sie das MtEv in fünf Reden präsentiert."

in: Einleitung in das Neue Testament, hrsg. von Martin Ebner/Stefan Schreiber, Stuttgart: Kohlhammer, 2008, S. 125.

Ähnlich, aber analytischer und viel ausführlicher beschreibt Uta Poplutz den Plot des Evangeliums in: "Erzählte Welt. Narratologische Studien zum Matthäusevangelium, Neukirchen-Vluyn: Neukirchener Verlag, 2008, S. 32-56.
Wie Ebner verweist sie auf zwei Stellen, die für den Erzählfaden wichtig sind: Mt 4,17 und 16,21. Im Konflikt mit den Feinden Jesu lassen sich drei Phasen unterscheiden: Kapitel 9-12, 15-20 und 21-27 mit eskalierender Dramatik.

Sind diese Hinweise nicht Anreiz genug, das Matthäusevangelium tatsächlich einmal in einem Rutsch durchzulesen und sich auf den Plot einzulassen? Ich werde es gleich tun.

Freitag, 20. November 2009

Van Dyke Parks - Frankfurt 17.11.

Ja, wer kennt ihn? In Frankfurt kamen 180 treue Fans zusammen, unter denen ich noch einer der jüngsten war. Dabei sind viele Songs von Parks Musik, die auch Kindern gefallen könnte - Songs, die an Musicals erinnern, verspielt und gleichzeitig voller überraschender Tonart- und Rhythmuswechsel, groovig, melodiös. Sein Meisterwerk ist für mich das 1984 erschienene "Jump", orchestral instrumentiert mit Hits, die damals und auch heute kaum einer hören möchte. Außer eben den Fans, die ihn als Geheimtipp weiterreichen, auch wenn er schon 66 Jahre alt ist und die Aura eines gemütlichen Onkels ausstrahlt, die alsbald verschwindet, sobald er tüchtig in die Tasten greift wie ein klassischer Musiker - filigran von E-Gitarre begleitet und massiv von einem akustische Bass unterstützt. Es war ein Fest für die Fans, die in Berlin und Frankfurt seine ersten beiden Solo-Konzerte auf deutschem Boden erleben durften. Er tritt nur sporadisch auf und ist doch ein begnadeter Entertainer, spielfreudig, ganz der Sache hingegeben, zwischen den Songs Pointen plaudernd, und von der Zuneigung demütig beeindruckt, die ihm vom Publikum zugetragen wird. Einer, der es genießt, nicht berühmt zu sein und eher bemitleidend Stars beobachtet, die immer beobachten müssen, ob sie ja auch beobachtet werden, wenn sie einen Raum betreten und dann ganz betreten sind, falls sie nicht erkannt werden.
Van Dyke Parks hören heißt, sich auf die Tiefen der amerikanischen populären Musik einzulassen; ja das Spektrum der präsentierten Songs reichte über Woody Guthrie und einem deutsch-jüdisch-amerikanischen Songwriter aus dem 19. Jahrhundert bis 1600 zurück - ein Enzyklopädist, der mit Brian Wilson (Beach Boys, "Smile"!!), Lowell George (Little Feat), Ry Cooder, Joana Newsom, Inara George und unzähligen anderen musizierte und sie produzierte.
Nächstes Jahr will er wiederkommen und er forderte die Dabeigewesenen auf, ihre Geschwister mitzubringen. Ja, mit meiner Schwester habe ich 1984 oftmals "Jump" gehört, auf diese Musik konnten wir uns einigen.

Wer ihn kennenlernen möchte, hier 5 Alben für eine lange und herzliche Freundschaft
"Song Cycle" 1968
"Discover America" 1972
"Jump" 1984
"Tokyo Rose" 1989
"Orange Crate Art" (zusammen mit Brian Wilson) 1995

Auf Youtube finden sich Ausschnitte aus einem Konzert 1989 in Japan, in dem er Songs von "Jump" und "Tokyo Rose" mit Orchester spielte.

Mittwoch, 18. November 2009

Tugenden in der Bergpredigt

Angeregt von Moises Mayordomo (siehe Blog vom 30.10), lese ich die Bergpredigt verstärkt als Einladung zu einer Tugendethik - der Lehrer Jesus malt in vielstimmiger Weise die Tugenden vor Augen, die Menschen in seinem Kraftfeld charakterlich in sich tragen und ausleben können.
Heute habe ich die SchülerInnen eines Leistungskurses (13. Jahrgangsstufe) die Bergpredigt in dieser Hinsicht analysieren lassen. Das Ergebnis ist aufschlußreich und beeindruckend:



Lassen sich diese Tugenden systematisieren?
1. Menschen, die von diesen Tugenden geprägt sind, orientieren sich am Wohl anderer.
2. In Bezug auf sich selbst verzichten sie auf Selbstdarstellung und Geltungsstreben; sie verhalten sich "authentisch" und klar.
3. Sie vertrauen in "naiver" Weise auf Gott ("naiv" im Sinne einer "2. Naivität", die von eigenständigen, erwachsenen Menschen bewußt und gegen die typisch erwachsene Sorge praktiziert wird).
4. Die Stimmung, aus der heraus diese Tugenden gelebt werden, läßt sich insgesamt durchaus als "fröhliche Zuversicht" beschreiben. Trübsinn und Verkrampftheit hat Jesus überhaupt nicht im Blick.

Sonntag, 15. November 2009

Gebet und Revolution

Dem 9. November 1989 wurde dieses Jahr zum "20. Jubiläum" besonders gedacht. Nicht vergessen werden sollte, dass ein Schlüsseldatum der friedlichen Revolution der 9. Oktober 1989 war.

Diesmal wollte der Demonstrationszug den ganzen Innenstadtring herummarschieren, auch am Gebäude der MfS (Stasi)-Bezirksverwaltung vorbei. Vor der Demonstration fanden in allen vier Leipziger Kirchen Friedengebete statt, in denen zu unbedingter Gewaltlosigkeit aufgerufen wurde. Es war "ein Aufbruch im Raum des Gebets." (R. Mau)

An diesem Tag wollte die Staatsführung der DDR den immer größer werdenden Montagsdemonstrationen in Leipzig Paroli bieten. Wasserwerfer [nicht Panzer, wie ich ursprünglich geschrieben habe: siehe Kommentar!] standen in den Seitenstraßen. Wie man sich verhalten sollte, wurde allerdings nicht entschieden, man wartete ab, war unsicher.



Zu Beginn der Demonstration erfuhr man über Lautsprechersäule am Leipziger Ring, dass engagierte Leipziger Bürger (u.a. Kurt Masur) mit der SED-Führung von Leipzig einen Aufruf zum freien Meinungsaustausch verfasst hatten und zur Besonnenheit aufriefen. Die Demonstranten hatte Kerzen in ihren Händen und riefen immer stärker und mutiger "Wir sind das Volk". Die Soldaten und die Polizei wagten/brauchten nicht einzugreifen.
Egon Krenz war für die Leipziger Funktionäre nicht zu erreichen, und so entschied man in Leipzig selbst, nicht einzugreifen, sofern keine Angriffe von Seiten der Demonstranten erfolgten, eine knappe Stunde später rief Krenz aus Berlin an und bejahte nachträglich die Entscheidung vor Ort.

Horst Sindermann, Präsident der Volkskammer, meinte später: "Mit allem haben wir gerechnet, nur nicht mit Kerzen und Gebeten. Sie haben uns wehrlos gemacht."

Angeregt durch: Rudolf Mau: Kirche als Raum der Befreiung zum eigenen Wort, in: Theologische Literaturzeitung 134/10 (2009), Sp.1025 und Sp. 1038f.
Bildquelle: http://www.welt.de/multimedia/archive/1223634339000/00679/leipzig_13_11__DW_R_679662g.jpg

Ergänzung aufgrund einer Richtigstellung (siehe Kommentar):


In der SED-Führung und NVA wurde in den Tagen zuvor zwar eine militärische Lösung diskutiert, aber eben nicht entschieden; die Hemmung, Todesopfer in der eigenen Bevölkerung zu riskieren, war groß; man beließ es bei polizeilich harten Durchgriffen am 6. und 7. Oktober gegenüber Demonstranten und plante so auch für den 9. Oktober in Leipzig. Auf Bezirksebene (Leipzig) und Stadt-Ebene (Plauen, Dresden: Bergmann) wollten die SED-Verantwortlichen ebenso keine militärische Gewalt ausüben und versuchten mit den demonstrierenden Bürgern ins Gespräch zu kommen.
Die erhöhte Einsatzbereitschaft von NVA und Stasi-Einsatzkommandos sprach sich allerdings herum und ließ auf Seiten der Bevölkerung (und auch bei vielen Soldaten/Polizisten) das Schlimmste befürchten. Es war klar, dass nur absolute Gewaltlosigkeit eingreifhemmend sein konnte. Die deshalb praktizierte Gewaltlosigkeit der Bürger hat es auch den politisch Verantwortlichen und den mobilisierten Soldaten/Polizisten ermöglicht, auf Gewalt zu verzichten.
So sieht im Moment meine geschichtliche Erkenntnis rund um den 9. Oktober 1989 aus, ich lasse mich aber gerne weiter eines Besseren belehren!

Ich habe vertiefend und für die Korrektur zu Rate gezogen: Ilko-Sascha Kowalczuk, Endspiel. Die Revolution von 1989 in der DDR, München: Beck 2009, S. 386-404.

Samstag, 14. November 2009

Anlass der Bergpredigt

Im Kontext des Erzählplots (Erzählfadens) des Evangelisten Matthäus ist die Bergpredigt die große Antrittsrede Jesu, die bei seinen Zuhörern, den Jüngern und dem versammelten Volk, Erstaunen und Erschrecken hervorruft. In dieser Rede offenbart er sich als vollmächtiger Lehrer einer spirituellen und sittlichen Lebensführung. Für die matthäische Darstellung der Jesuserinnerung ist es ganz wesentlich, Jesus als Lehrer des neuen, endzeitlichen Israel darzustellen. Nicht nur sein Leben, sondern auch seine Lehre wird als Gabe an die Seinen und für die ganze Welt begriffen, was der Schlußvers des Evangeliums hervorhebt: „Lehret sie halten alles, was ich euch gesagt habe“ (Matthäus 28,20) .

Die Bergrede als Lehr-Ouvertüre wurde vom Autor des Evangeliums zusammengestellt. Einen Teil der Jesusüberlieferung fand er in der Spruchsammlung (Q) vor, die auch Lukas für seinen „Feldrede“ verwendet hat. Matthäus hat diese Zusammenstellung von Jesusworten mit weiteren Überlieferungen angereichert und diese redaktionell so bearbeitet, dass sie seinem Verständnis von Christusnachfolge entsprachen, das sich in Kontinuität zum Gesetzesgehorsam des jüdischen Volkes verstand.

Wenn man die Signale im Text genau analysiert, dann ergibt sich ein recht deutliches Bild der Adressaten, die sich der Autor des Evangeliums vorstellt – sie sind ein Spiegelbild seiner selbst. Im Blick sind erwachsene Männer, die im jüdischen Toragehorsam (Leben nach dem Gesetz des Mose) fest verankert sind, aber als Kern ihrer spirituellen Identität Jesus von Nazareth als den Christus Israels und der anderen Völker angenommen haben.

Der Evangelist möchte helfen, den an Jesus gebundenen Messiasglauben als wahren jüdischen Glauben zu begreifen, der seit Jesu Auferstehung und Himmelfahrt auch den nichtjüdischen Völkern zugänglich gemacht werden soll. Das jüdische Volk musste nach der Zerstörung des Tempels (70 n.Chr.) intensiv darüber reflektieren, welche religiöse Lebensform vor Gott wohlgefällig ist und wie es mit dem Volk ohne Staat weitergehen kann. Das Matthäusevangelium, vermutlich um 80-90 n.Chr. publiziert, schaltet sich in dieses Ringen mit dem Ruf ein, auf die Stimme Jesu zu hören. Der Gott Israels möchte, dass sein Volk auf ihn hört und von ihm lernt, wie eine „vollkommene“ Lebensführung aussieht. Der Autor des Matthäusevangeliums steht im engen konfliktträchtigen Kontakt mit pharisäischer, frührabbinischer jüdischer Lebenspraxis und bietet in Bezug darauf Orientierung, wie man als Jude Jesusnachfolger sein kann. Dieser Kontext ist der Grund dafür, warum Jesus besonders im Matthäusevangelium als Lehrer des vollkommenen Gesetzesgehorsam charakterisiert wird. Matthäus läßt Jesus darum eine ganz einzigartige Tugendethik verkündigen, die besonders in der Unterweisung am Berg hervorsticht.

Der Kampf der Wölfe

Die Navajo-Indianer erzählen sich einen sehr einleuchtenden Dialog zwischen Großvater und Enkel, um zum tugendhaften Verhalten einzuladen (die Authentizität ist m.E. recht unsicher, was dem tiefsinnigen Inhalt jedoch keinen Abbruch tut)



Der Großvater öffnet seinem Enkel das Herz:
„Manchmal habe ich das Gefühl, dass in mir ein Kampf tobt – ein Kampf zwischen zwei Wölfen.
Der eine Wolf ist böse. Er ist der Wolf des Zorns und Neids, der Sorge, des Vorwurfs, der Gier und der Arroganz, des Selbstmitleids, der Schuld, der Ablehnung, der Minderwertigkeit oder Überlegenheit; der Angst vor der Heilwerdung von Körper und Seele, vor dem Erfolg und davor, dass das, was die anderen gesagt haben, wahr sein könnte; der Angst, in den Mokassins eines anderen zu laufen, um nicht mit seinen Augen sehen und seinem Herzen fühlen zu müssen, wie sich die Wirklichkeit aus seiner Sicht darstellt, so dass ich an hohlen Ausreden festhalten kann, die ich im Inneren längst als falsch erkannt habe.
Der andere Wolf ist gut. Er ist der Wolf der Freude, des Friedens, der Liebe und Hoffnung, der Gelassenheit, Bescheidenheit und Güte, des Mitgefühls für jene, die mir geholfen haben, wenngleich ihre Bemühungen nicht immer perfekt waren, der Bereitschaft, mir selbst und anderen zu vergeben und zu erkennen, dass ich mein Schicksal selbst in der Hand habe.“

Nachdem der Enkel eine Weile über die Worte seines Großvaters nachgedacht hatte, fragte er: „Sag mir, Großvater, welcher der beiden Wölfe wird nun gewinnen?“ Der weise, alte Mann antwortete: „Der Wolf, den ich zu füttern beschließe.“


Bildnachweis:
http://www.wolfspark-wernerfreund.de/03wolfspark/03AnlageC/GehegeC.html
Textnachweis:
Fundort: John Izzo, "Die fünf Geheimnisse, die sie entdecken sollten, bevor sie sterben", München: Riemann, 2008, Kapitel 5.

Freitag, 13. November 2009

Bergpredigt - zukünftige Gottesnähe

Die zukünftige (eschatische) Gottesnähe wird mit unterschiedlichen Bildern in den Glückselig-preisungen (Matthäus 5,3-11) sichtbar gemacht, die stark in der Anschauungswelt der Schriften Israels (AT) verwurzelt sind:

- „das Reich der Himmel besitzen“: Der Himmel ist der unbestrittene Machtbereich Gottes, er gehört ganz Gott, und so auch ganz den Seliggepriesenen. Damit gibt Gott an seinem Besitz völligen Anteil, verheißen wird eine engste „Besitzgemeinschaft“, d.h. „Machtteilhabe“, also „Throngemeinschaft“. Die räumliche Nähe zu Gott, konkret: neben ihm sitzen, sollte man sich hier vorstellen, eine nicht zu überbietende Statuserhöhung.

- „getröstet werden“, d.h. von Gott getröstet werden. Trösten ist eine Geste der zärtlichen Berührung, man wird in den Arm genommen, Tränen werden abgewischt, Worte der Beruhigung werden gesprochen.

- „die Erde ererben“: Das Reich Gottes umfasst nicht nur den Himmel, sondern auch die Erde, als Raum ist es der „neue Himmel und die neue Erde“, also eine Sphäre der Einheit von Geistlichkeit und Leiblichkeit. Darum kann man dort auch

- „satt werden“: Jesus vergleicht das Himmelreich oft mit einem edlen Festmahl, an dem man tatsächlich satt wird. Psalm 23,5: "Du bereitest vor mir einen Tisch im Angesicht meiner Feinde. Du salbest mein Haupt mit Öl und schenkest mir voll ein."

- „Barmherzigkeit erlangen“: Barmherzigkeit zeigt sich in Gesten Zuwendung, der Berührung und des Versorgens.

- „Gott schauen“. Dies ist die direkteste Aussage der heilvollen Gottesnähe, Gottes Angesicht sehen, die Schönheit der Schönheiten anblicken und dabei nicht sterben, sondern ewig leben – ein Genuß, keine Qual. Die Beter im alten Israel finden Gottes Angesicht in seinem Tempel: Psalm 27,8-10: "Mein Herz hält dir vor dein Wort: »Ihr sollt mein Antlitz suchen.« Darum suche ich auch, HERR, dein Antlitz. Verbirg dein Antlitz nicht vor mir, verstoße nicht im Zorn deinen Knecht! Denn du bist meine Hilfe; verlass mich nicht und tu die Hand nicht von mir ab, Gott, mein Heil! Denn mein Vater und meine Mutter verlassen mich, aber der HERR nimmt mich auf."

- „Gottes Kinder heißen“: Dies ist die Geste der Anerkennung durch Gott, die Annahme als Kinder, als Söhne Gottes. Hosea 2,1: "Doch die Zahl der Söhne Israel wird wie Sand am Meer werden, den man nicht messen und nicht zählen kann. Und es wird geschehen, an der Stelle, an der zu ihnen gesagt wurde: Ihr seid nicht mein Volk!, wird zu ihnen gesagt werden: Söhne des lebendigen Gottes." Die Söhne wiederum regieren mit Gott, sind also zum höchstmöglichen Status erhöht.

Donnerstag, 12. November 2009

Robert Enke

Ich bin positiv beeindruckt vom Umgang der Angehörigen und der Öffentlichkeit mit dem Suizid von Robert Enke.

Die engsten Vertrauten, seine Frau und sein Therapeut, legen den Hauptgrund offen: Robert Enke litt an einer schweren seelischen Krankheit, an einer besonderen Form der Depression.

Die Medien klären sehr bald mit Hilfe von Experten (Leitern von psychiatrischen Kliniken) über die Krankheit auf und schaffen so ein wenig Sensibilität für den schwierigen Umgang mit lebensbedrohlichen seelischen Krankheiten. Schwieriger, weil nicht nur der Körper (wie z.B. bei Krebs), sondern die Seele des Betroffenen selbst "krank" ist. Damit umzugehen, ist für den Kranken selbst wie auch für die "Mitwissenden" extrem schwierig, weil man nicht einfach "über" die Krankheit reden kann. Denn jede Kommunikation des Kranken wird als Ausdruck der Krankheit wahrgenommen. Das weiß auch der Betroffene und er fürchtet um die "Stigmatisierung", die damit einher geht, ganz anders als bei einer Verletzung oder einer rein körperlichen Erkrankung. Viele versuchen deshalb, unter Aufbringung großer Kräfte, so zu kommunizieren, dass der Verdacht auf seelische Erkrankung gar nicht in der Kommunikation aufkommt.

Die Kirchen organisieren schon am Abend nach der Tat eine ökumenische Andacht, in der dem Toten, aber auch derer gedacht wurde, die mitbetroffen und traumatisiert sind (z.B. der Zugfahrer). Kein Vorwurf, keine schnellen Antworten, vielmehr wird dem Schock, der Trauer durch Kerzen, durch Predigt, Gebet, durch das Vater-Unser und den aaronitischen Segen ein "Halt" gegeben, eine religiöse Sprache und Geborgenheit.

Der deutsche Fußballbund sagt das anstehende Länderspiel ab und gibt Zeit zum Trauern.

Ich habe heute im Religionsunterricht mit einer Klasse über das Geschehen gesprochen und wir haben dann gemeinsam überlegt, was uns dieses tragische Ereignis bewusst machen kann. Dabei ist u.a. deutlich geworden, dass weiterhin Aufklärung darüber notwendig ist, in welchem seelischen Zustand sich Menschen befinden, die an einer Depression leiden, auch wenn das für Nichtbetroffene nicht völlig nachvollziehbar ist. Verständnis führt zu Akzeptanz und Akzeptanz erleichtert es Betroffenen, "gut" mit ihrer Krankheit umzugehen und sich richtig behandeln zu lassen.

Montag, 9. November 2009

Neunte November

Freude und Trauer, Stolz und Scham - Höhen und Tiefen der deutschen Geschichte an 9. Novembern

9. November 1848: Robert Blum, Paulskirchenteilnehmer, Republikaner, Kämpfer für ein freiheitliches und einheitliches Deutschland, wird in Wien knapp 41-jährig hingerichtet (die Aufhebung des unrechtmäßigen Todesurteils erreicht das Hinrichtungskommando nicht mehr). Er hinterlässt einen wunderbaren Abschiedsbrief an seine Frau.
9. November 1918: Kaiser Wilhelm II. tritt zurück, Philipp Scheidemann ruft die Republik aus, Stunden später ruft Karl Liebknecht die sozialistische Republik aus. Deutschland schlittert in eine leider ungeliebte Republik hinein...
9. November 1923: Krisenjahr der Republik, Inflation...Der Hitler-Ludendorff-Putsch wird niedergeschlagen, aber der Rechtsextremismus wird in der Folge nicht entschieden bekämpft.
9. November 1938: Reichspogromnacht - in der Nacht vom 9. auf den 10. November werden auf Befehl der nationalsozialistischen Führung die meisten deutschen Synagogen in Brand gesteckt, tausende von jüdischen Geschäften und Warenhäusern geplündert, ca. 40 000 deutsche Juden werden verhaftet, misshandelt und in Konzentrationslager verschleppt. Die Entwürdigungen z.B. in der Jahrhunderthalle Frankfurt als "Sammelstelle" nach den Verhaftungen sind brutal und sadistisch.
9. November 1989: Die Mauer ist offen. Die immer kräftiger und mutiger werdende Freiheitssehnsucht eines Großteils der DDR-Bevölkerung findet Erfüllung. Die anwachsende Protestwelle führte vom Slogan "Wir sind das Volk" (9.10. Montagsdemo in Leipzig mit 70 000 Demonstranten, von denen viele vorher Gottesdienste besucht hatten, die die Gewaltlosigkeit Jesu vor Augen malten) zur Feststellung "Wir sind ein Volk" und damit zur wiedergewonnen Einheit Deutschlands in Freiheit.

Tugenden (1): Geduld



"Ich harre aus und zertrete niemanden."

So spricht die Geduld nach Auskunft von Hildegard von Bingen.

Quelle: Christine Büchner, Hildegard von Bingen. Eine Lebensgeschichte, Frankfurt am Main und Leipzig: Inselverlag, 2009, S. 86.

Samstag, 7. November 2009

Interreligiöse Begegnungen

In der letzten Woche konnte ich an zwei interreligiösen Begegnungen teilnehmen.

Yuval Lapide, der Sohn des bekannten Ehepaars Pinchas und Ruth Lapide, stellte sein Verständnis von Paulus vor. Er lud die ZuhörerInnen dazu ein, seinen Vortrag durch Fragen und Kommentare zu unterbrechen, damit die Atmosphäre eines jüdischen Lehrhauses entstehe. Von diesem Angebote macht ich öfters Gebrauch.
Lapide bewundert Paulus und möchte ihn als hochgebildeten Toralehrer und Pharisäer deuten, dessen Denken und Handeln durchaus im Rahmen des damaligen zeitgenössischen Judentums zu verstehen sei, er wollte die Tora stärker von der Gnade Gottes her verstehen. Der Jesusverehrung des Paulus (Jesus als menschgewordener Gott und als zum Herrn der Welt Erhöhte) kann Lapide allerdings wenig abgewinnen - er sprach sogar davon, dass hier Phantastereien des Paulus vorlägen, die als Ausdruck des Traumatas, dass er nie Jesus wirklich in Galiläa leibhaftig nachfolgen konnte, zu interpretieren seien.
Ich möchte diese gewagte These hier gar nicht kommentieren, sondern nur festhalten, dass offensichtlich die existentielle Bindung an Jesus Christus als gekreuzigten und auferstandenen göttlichen Herrn das ist, was jüdische Identität von christlicher Identität unterscheidet. Und dass dieses christliche Proprium gar nicht so einfach zu begreifen ist, obwohl es m.E. das Herz, der Dreh- und Angelpunkt des Lebens als Nachfolger Christi ist.
Die Begegnung mit Lapide hat mir aber auch wieder bewusst gemacht, wie stark Juden und Christusgläubige aller Völker miteinander verbunden sind: durch die Schrift, durch Jesus und durch die ersten Apostel, die alle Juden waren.

Einige Tage später war ich Ko-Referent einer Veranstaltung mit dem Titel: "Gewaltlosigkeit in der buddhistischen Spiritualität und in der Lehre Jesu". Im Gespräch nach den Kurzreferaten äußerte der von mir sehr geschätzte Referent Alfred Weil die Überzeugung, dass der christliche Glaube stark von der Angst vor der Strafe Gottes im Gericht geprägt sei, eine Angst, die im buddhistischen Karmaglaube ganz wegfalle. Auch diese Äußerung machte mir bewusst, dass der Kern christlichen Glaubens schnell aus die Blick geraten kann. Mein Glaube an Christus ist das Überwältigtsein von der Liebe Gottes, die sich in Christus offenbart hat. Meine Nachfolge beruht auf am Angestecktsein von der faszinierenden Lehre Jesu.
Angst vor dem Gericht? Nein, sondern die Hoffnung, dass Gott als Garant des Tun-Ergehen-Zusammenhangs den Opfern der Weltgeschichte, dir und mir, Recht schaffen wird; die Täter, du und ich, sollen schon jetzt zur Erkenntnis kommen, dass Gott selbst die Folgen des Unrechts am Kreuz auf sich genommen hat, und darüber ins Staunen geraten, wie groß die Liebe Gottes ist. Lesetipp: Römer 5,1-11, ach, eigentlich das ganze Kapitel 5, oder gleich den ganzen Römerbrief, den auch Yuval Lapide so stark findet, dass er von ihm nicht lassen kann.

Freitag, 6. November 2009

Selig sind die Sanftmütigen



Selig/Glücklich (griech. makarios) sind die Sanftmütigen/Freundlichen (griech. praeis), denn sie werden das Land/die Erde besitzen.

Die „Sanftmütigen“ können sich mit ihrer Freundlichkeit in andere Menschen einfühlen und ihnen nahe sein, ohne in den anderen gewaltsam einzudringen. Sie achten die Grenzen der anderen.
Obwohl es ein Tierbild ist, finde ich die Geste der Orang-Utan-Mutter so beispielhaft zärtlich. Zärtlichkeit ist eine Schwestertugend der Sanftmut und Freundlichkeit.

Quelle: http://knutisweekly.com/2009/09/sanftmut-ist-keine-waffe/comment-page-1/

Mittwoch, 4. November 2009

Geistliche Übungen - Beichte

Für Katholiken selbstverständlich, für Protestanten jedoch, sowohl in den Volkskirchen wie auch in den Freikirchen, überwiegend kein wesentlicher Bestandteil der spirituellen Praxis. Luther übte an der katholischen Bußpraxis Kritik, behielt sie aber bei, während die Reformierten (Zwingli, Calvin) sie als nichtbiblisch ablehnten. Luther behielt sie übrigens nicht nur bei, sie war in Krisenzeiten für ihn fast täglich wichtig. Der evangelische Theologe Oswald Bayer (bei ihm habe ich 1988 an der Universität Tübingen die 1. Staatsexamensprüfung abgelegt) hat sogar plausibel gemacht, dass der eigentliche reformatorische Durchbruch Luthers mit der Erkenntnis einherging, dass die Zusage der Sündenvergebung in der Beichte eine echte und vollständig gewisse Zusage Gottes selbst ist, die befreienden Charakter hat (O. Bayer: Promissio. Geschichte der reformatorischen Wende in Luthers Theologie). Erhellend dazu ist ein Auszug aus dem Kleinen Katechismus von Dr. Martin Luther zum Thema Beichte:

"Was ist die Beichte?
Die Beichte begreift zwei Stücke in sich: eins, dass man die Sünden bekenne; das andere, dass man die Absolution oder Vergebung vom Beichtiger (Pfarrer) empfange als von Gott selbst, und ja nicht daran zweifele, sondern fest glaube, die Sünden seien dadurch vergeben vor Gott im Himmel.
Welche Sünden soll man denn Beichten?
Vor Gott soll man aller Sünden sich schuldig geben, auch die wir nicht erkennen, wie wir im Vaterunser tun. Aber vor dem Beichtiger (Pfarrer) sollen wir allein die Sünden bekennen, die wir wissen und fühlen im Herzen."


Ich selbst habe die Beichte bisher nur gegenüber Gott selbst praktiziert, aber nicht vor einem Beichtvater. Diese geistliche Übung ist mir bewusst geworden, weil ich vor kurzem selbst überraschenderweise zu einem Beichtvater wurde und dann ganz im Sinne von Luther die Zusage der Sündenvergebung ausgesprochen habe.
Die biblischen Bezugstexte für die Beichte vor Gott sind an erster Stelle die sogenannten Bußpsalmen Psalm 6, 32, 38, 51, 130 und 143, unter denen besonders Psalm 51 hervorragt.
Ein wichtiger biblischer Bezugstext für die Beichte vor einem anderen Gläubigen ist Jakobus 5,16: "Bekennt also einander eure Sünden und betet füreinander, damit ihr gesund werdet."
Beichte im Sinne des Evangeliums ist keine Leistung, auch keine Selbsterniedrigung, sondern eine ehrliche, authentische Auseinandersetzung mit den zerstörerischen Anteilen des eigenen Seelenlebens (die das Verhalten negativ prägen und einem selbst und anderen Schaden zufügen).

Dienstag, 3. November 2009

Gott in der Bergpredigt

Gott ist ganz überwiegend der „Vater“, meistens der „Vater, der in den Himmels ist (wohnt)“, aber auch ein Vater, der „im Verborgenen ist“. Ich habe eine Liste aller Texte in der Bergpredigt zusammengestellt, die diesen Befund eindrücklich dokumentieren. Die Aussagen geben Aufschluss über wesentliche Charakterzüge Gottes als Vater.

5,16: „So soll euer Licht leuchten vor den Menschen, damit sie eure guten Werke sehen und euren Vater, der in den Himmeln ist, verherrlichen.
5, 44-45: „Ich aber sage euch: Liebt eure Feinde, und betet für die, die euch verfolgen, damit ihr Söhne eures Vaters seid, der in den Himmeln ist! Denn er lässt seine Sonne aufgehen über Böse und Gute und lässt regnen über Gerechte und Ungerechte.
5,48: Ihr nun sollt vollkommen sein, wie euer himmlischer Vater vollkommen ist.
6,1: Habt acht auf eure Gerechtigkeit, dass ihr sie nicht vor den Menschen übt, um von ihnen gesehen zu werden! Sonst habt ihr keinen Lohn bei eurem Vater, der in den Himmeln ist.
6,6: Wenn du aber betest, so geh in deine Kammer, und wenn du deine Tür geschlossen hast, bete zu deinem Vater, der im Verborgenen ist! Und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten.
6,8: Denn euer Vater weiß, was ihr benötigt, ehe ihr ihn bittet
6,9: Unser Vater, der du bist in den Himmeln, geheiligt werde dein Name;
6,14-15: Denn wenn ihr den Menschen ihre Vergehungen vergebt, so wird euer himmlischer Vater auch euch vergeben; wenn ihr aber den Menschen nicht vergebt, so wird euer Vater eure Vergehungen auch nicht vergeben.
6,17-18: Wenn du aber fastest, so salbe dein Haupt und wasche dein Gesicht, damit du nicht den Men-schen als ein Fastender erscheinst, sondern deinem Vater, der im Verborgenen ist! Und dein Vater, der im Verborgenen sieht, wird dir vergelten.
6,26: Seht hin auf die Vögel des Himmels, dass sie weder säen noch ernten noch in Scheunen sammeln, und euer himmlischer Vater ernährt sie doch.
6,31-32: So seid nun nicht besorgt, indem ihr sagt: Was sollen wir essen? Oder: Was sollen wir trinken? Oder: Was sollen wir anziehen? Denn nach diesem allen trachten die Nationen; denn euer himmlischer Vater weiß, dass ihr dies alles benötigt
7,11: Wenn nun ihr, die ihr böse seid, euren Kindern gute Gaben zu geben wisst, wie viel mehr wird euer Vater, der in den Himmeln ist, Gutes geben denen, die ihn bitten!
7,21: Nicht jeder, der zu mir sagt: Herr, Herr!, wird in das Reich der Himmel hineinkommen, sondern wer den Willen meines Vaters tut, der in den Himmeln ist.

Als Vater sorgt Gott für alle Menschen, Tiere und Pflanzen. Die Schüler Jesu erkennen Gott durch ihn ("mein Vater") als ihren Vater ("euer Vater", "dein Vater"); sie rufen ihn als Vater an ("Unser Vater") und befinden sich somit in einem ganz familiär-intimen Verhältnis zu ihm, der sich um sie, aber auch um alle anderen in seiner vorsorgenden Allwissenheit kümmert, ja alle seine Geschöpfe liebt und versorgt. Gott ist im Himmel, aber gleichzeitig auch im „Verborgenen“, er ist also in der Welt anwesend, dort aber nicht in der Öffentlichkeit, auch nicht im Tempel, sondern an Orten, die Menschen alleine aufsuchen (die eigene Kammer) und im Inneren der Menschen. Dieser Vater lehnt das Posing (Sich-in-Szene-Setzen, Sich-zur-Schau-stellen-Wollen, Imponiergehabe) und Rechthaberei ab.

Montag, 2. November 2009

Kohelet als Philosoph

Noch ein Nachtrag zum Buch Kohelet, zu dem ich in den letzten Wochen eine Reihe von Texten gepostet habe. Ein regelmäßiger Leser des Blogs (Christian Wannenmacher) hat mich auf einen lesenswerten Artikel aufmerksam gemacht, der die auch von mir herausgestellte philosophische Dimension des Buches Kohelet (Prediger Salomo) betont und den Text als "Klassiker" jüdischer Philosophie bezeichnet. Hier ein Zitat:

"Sollte sich herausstellen, dass Kohelet »auch unter den Philosophen ist«, wie Saul unter den Propheten, sollte sich ergeben, dass das Buch Kohelet nicht nur zum biblischen Kanon, sondern zum Kanon der klassischen jüdischen Philosophie gehört, dann würde sich vom philosophischen Standpunkt die Frage erheben, welche Reflexionsressourcen in ihm verborgen liegen und wir müßten das Buch in der gleichen Weise abhandeln wie irgend einen Klassiker der Philosophie, nämlich als das Werk eines nach wie vor ernstzunehmenden Denkers. So wurde es zumeist in der Geschichte der jüdischen Philosophie rezipiert. Salomon galt schon im Altertum als eine Art Philosophenkönig und jüdische Philosophen fühlten sich durch seine »heiligen Schriften« immer angesprochen. Insbesondere das Buch Kohelet kam mit seinen allgemeinen Aussagen einem philosophischen Traktat am nächsten. Zugleich war es wegen seiner Skepsis hinsichtlich Unsterblichkeit und der Vergeltung für die jüdischen Philosophen, wie zuvor schon für die Rabbinen, ein dauernder Anstoß.
Ehe wir auf die Frage antworten können: »Ist auch Kohelet unter den Philosophen?« müssen wir deshalb grundsätzlich feststellen, was ein philosophischer Text sei. Uns drängen sich sieben Kriterien auf:
1. Die Philosophie fragt von Anfang an nach dem Ganzen des Seins und dem Nichts (Totalität)
2. und zwar vom fragenden Ich aus, das zugleich seinen Ort und das Ziel seines Daseins im Ganzen des Seins sucht (Subjektivität).
3. Dabei wird der Erkennende zugleich auf die Selbsterkenntnis und die Möglichkeiten und Grenzen der Erkenntnis zurückgeworfen (Reflexivität)
4. und stellt alle herkömmlichen Sinngebungen in Frage (Kritik)
5. Hierbei befreit es sich aus den beschränkten sozialen, nationalen und religiösen Grenzen (Universalität),
6. anerkennt aber zugleich auch die unhinterfragbaren Gegebenheiten des Bewußtseins und Seins (Positivität).
7. Die Philosophie entwickelt diese Gedanken in zusammenhängender Weise, auch wenn sie in sentenziöser oder aphoristischer Form daherkommt (System).
Von diesen Kriterien erfüllt das Buch Kohelet die sechs ersten beinahe in Reihenfolge und das siebte nach wohlwollender Prüfung."

aus: D. Krochmalnik, "Ist auch Kohelet unter den Philosophen?", in: Daniel Krochmalnik/Magdalena Schultz (Hrsg.), Ma-Tow Chelkenu. Wie gut ist unser Anteil. Gedenkschrift für Jehuda Radday, Heidelberg 2004, S. 87-104.

Sonntag, 1. November 2009

Gottesnähe in der Taufe

Andere Menschen auf ihrem Weg des Glaubens zu begleiten, ist auch für mich selbst eine wesentliche spirituelle Erfahrung. Besonders intensiv wird es, wenn jemand sich ganz eng mit Gott in Christus verbinden will - in der Taufe. Hier erhält die Begleitung zur Taufe hin einen konzentriert-ernsten, aber auch fröhlichen Charakter. Im Vordergrund steht die Freude am Glauben, am Entdecken dessen, was das Leben wesentlich macht.
Taufe umfasst für mich vier Dimensionen des Glaubens
1. Sündenvergebung, Versöhnung.
2. Neues Leben in Christus - Neuanfang, ewiges Leben, das jetzt beginnt.
3. Leben in Christus für Gott: Heiligung als Lebensführung, die sich allen Aspekten der Agape-Liebe öffnet.
4. Berufung: Berufung zu einer Aufgabe, für die man der rechte Mann oder die rechte Frau ist.
Gestern durfte ich Daniel taufen, der mich im August besucht hat - es war ein Wiedersehen nach längerer Zeit, denn wir hatten uns schon vor 2 Jahren öfters getroffen und über das Leben und den Glauben gesprochen. Diesmal sagte er: Ich möchte mich gerne taufen lassen. Dieser Wunsch hat mich sehr bewegt, denn es ist immer ein heiliger Moment, wenn jemand sich ganz eng mit Christus verbinden lassen will und in diesem Symbol (Zeichen, Sakrament) dann die Nähe Gottes auch leiblich spürt.






Daniel hat vor der Taufe Folgendes gesagt:
"In den letzten Jahren habe ich viel nachgedacht über alles Mögliche und versucht, den Sinn zu erkennen der Dinge. Ich habe Vieles hinterfragt und war auch oft erfüllt von Zweifel. Ich bin an einem Punkt angekommen, an dem ich sagen möchte: Mit der Gewissheit nicht alles unter Kontrolle haben zu können, keinen Einfluss auf alles zu haben, sowie die Unvermeidbarkeit Abschied nehmen zu müssen von Menschen, die wir lieben, und zuletzt die Gewissheit, dass unsere irdische Zeit beschränkt ist, möchte ich mein Leben jemandem anvertrauen, der auf alles eine Antwort hat. Diese Erkenntnis hat mich in meiner Entscheidung gefestigt. Ich möchte mein Leben Jesus anvertrauen, der alle Menschen retten kann, uns Hoffnung schenkt und uns den richtigen Weg weist, wenn wir es zulassen. Er kennt alle meine Sorgen und kann sie mir nehmen. Liebe kann keine Laune der Natur oder Evolution sein, ebenfalls nicht die Schönheit und Komplettheit der Natur. Hoffnung auf ein neues Leben ohne Sorgen, Trauer und Schmerz ist besser, als an nichts zu glauben. Diese Hoffnung wünsche ich allen Menschen, die vielleicht noch Zweifel haben."