Kohelet ist dasjenige Buch des Alten Testaments, das am deutlichsten philosophisch argumentiert. Hier denkt jemand nach, sinniert und reflektiert über das Leben, auch mit Bezug zu Gott, aber immer von einem Standpunkt „unter der Sonne“ aus, sozusagen „empirisch“. Man könnte auch sagen: Gott spricht ihm nicht hinein, unterbricht ihn nicht, rügt ihn auch nicht. Er hält sich im Hintergrund, bleibt „im Himmel“. Und ein solcher Text ist Teil des biblischen Kanons! In der jüdischen Religion wird also nicht nur geglaubt (Gottes Worten) und gehorcht (seinem Gesetz), sondern auch nachgedacht und reflektiert (weisheitlich philosophiert). Glauben und Denken werden somit in ein fruchtbares Spannungsverhältnis gebracht. Die frühen Christen haben diese Weite der jüdischen Religion geerbt und fortgeführt. Heute theologisch denken bedeutet darum immer beides: Gottes Wort hören und verstehen, wie auch die Welt deuten und im Gespräch mit dem zeitgenössischen Denken verstehen.
Philosophisch denken heißt, sich interkulturell und interreligiös zu orientieren. Das Predigerbuch verwendet sprachliche Formen und gedankliche Inhalte, die auch in Ägypten, Mesopotamien und Griechenland durchdacht wurden. So ist es ein Zeugnis „interkultureller Theologie“ (Markus Witte), deren Charakter es ist, empirisch, vergleichend, skeptisch, kritisch und reflexiv vorzugehen. Diese philosophischen Tugenden – das ist das Bedeutende – finden sich innerhalb des biblischen Kanons; die Bibel als Offenbarungsurkunde schließt also einen Text ein, der selbst keine Offenbarung ist, sondern Philosophie und zu deren Tugenden auch einlädt!
Philosophie hält auf Distanz, sie engagiert sich in der Regel weniger, als dass sie beobachtet und ihre Schlüsse zieht (Marx hat ihr das zum Vorwurf gemacht, was aber die Qualität seiner Philosophie nicht verbessert hat; er hat die Differenz von Weisheit und Politik einebnen wollen). Sie hält auch Gott auf Distanz. Er darf nur verborgen wirken, bleibt rätselhaft, jedenfalls bei Kohelet. Das ist gute Philosophie aber magere Religion. Denn Religion, die verändernde Begegnung zwischen Gott und Mensch, verspricht Gottesnähe. Religion verheißt, dass es eine Bewegung vom Gott „über der Sonne“ hin zur Welt „unter der Sonne“ gibt. Christen glauben, dass sich diese Bewegung in Jesus Christus ereignet hat. Gott ist der liebende Vater und der menschgewordene Sohn.
Aber diese Nähe des liebenden Vaters und die Nachfolge Jesu kann auch Christen hin und wieder „verloren“ gehen, aufgrund von Lebenserfahrungen oder neuen gedanklichen Herausforderungen. Kohelet kann dann zu einem intellektuellen und existentiellen Aufenthaltsort „am Rande“, aber eben nicht außerhalb, der jüdisch-christlichen Religion werden – eine philosophische Religion ohne Erlösung, ohne Rettung, ohne ewiges Heil und dennoch in Bezug auf einen Gott, der einen selbst und die Welt, geheimnisvoll und unergründlich am Leben hält.
Schließlich der „Hedonismus“ des Buches. Das gewährte Leben genießen, sich trotz Mühe und Vergänglichkeit freuen, das ist ein Akzent, der in jeder jüdischen und christlichen Lebensform nicht fehlen darf. Denn in der Freude, die die Gegenwart ganz gegenwärtig sein läßt, ist doch – Gott – gegenwärtig. Das jedenfalls verrät uns Kohelet.
Die letzten 14 Tage haben sie viele meiner Posts um das Koheletbuch gedreht. Es hat mir Freude gemacht, es genauer zu lesen und unter einigen Gesichtspunkten zu analysieren (um alle Posts dazu in einer Reihe zu haben, einfach das Label "Kohelet" anklicken). Den nächsten biblischen Text habe ich schon im Blick - die Bergpredigt, angeregt durch das Heft 24 der ZNT (Zeitschrift für Neues Testament). Ich bin schon gespannt, was diese Rede (Matthäus 5-7) an Anregungen und Einsichten auslösen wird.
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